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„Ich glaube, die Deutschen sind gar nicht so dumm“: Michael Lewis
Michael Lewis ist ein Mann, den wir hier ja nicht mehr groß vorstellen müssen: Niemand schilderte die Hintergründe der Immobilienkrise besser, als er es 2010 in seinem Buch „The Big Short“ tat, nämlich eher mit viel Lust am Irrsinn als mit moralischen Urteilen. Und weil die ebenso unglaublichen Zustände in Europas Schuldenstaaten, von denen er in seinem neuen Buch „Boomerang“ berichtet, in diesen präapokalyptischen Tagen fast schon wieder wie eine Idylle aussehen, haben wir ihn diese Woche einmal angerufen.
Guten Morgen, Mister Lewis.
Wie geht’s? Wie ist denn die Stimmung in Deutschland gerade?
Sehr unterschiedlich, würde ich sagen.
Nimmt denn die Ablehnung gegen die Finanzhilfen für die Länder an der europäischen Peripherie zu?
Noch mehr? Der Vorschlag, die Akropolis zu verkaufen, ist kaum zu toppen.
Ich habe mich nur gefragt, ob es Frau Merkel inzwischen besser gelingt, das deutsche Volk von ihren Abkommen zu überzeugen. Ob sie den letzten Schritt macht und die EU mit deutschem Geld rettet. Ob die Deutschen sie dafür rauswerfen oder ihr applaudieren.
Ich glaube, die meisten Deutschen verstehen gar nicht, worüber gerade überhaupt diskutiert wird. Und die, die es halbwegs verstehen, sind gespalten. Natürlich wollen viele nicht zahlen, aber es gibt schon auch Menschen, die glauben, dass das auch unsere Schulden sind - im moralischen Sinn.
Mir ist nicht ganz klar, ob Merkel eine bewusste Strategie verfolgt oder ob ihr das alles gerade sozusagen passiert. Ich glaube eher, sie antwortet auf die Krise, während diese sich entwickelt. Und es stimmt: Es ist erstaunlich, wie die Märkte auf Schlagzeilen reagieren, hinter denen überhaupt keine Substanz steckt. Man weiß wirklich nicht, über was die überhaupt reden. Sie sagen nur, sie sind sich über irgendetwas einig, aber nicht, über was. Und alle sagen: Toll!
Es ist wie eine Black Box.
Absolut. Es ist sehr lustig, das mitanzuschauen, aus einer gewissen Entfernung. Vermutlich nicht so sehr, wenn man mittendrin steckt.
Ich wollte eigentlich mit Ihnen über Ratingagenturen reden. Standard Poor’s hat jetzt gedroht, auch deutsche Anleihen herabzustufen. Wieso hört eigentlich noch jemand auf Ratingagenturen?
Ich kann mir das nur durch zwei Dinge erklären: Der praktische Grund ist, dass die Ratings immer noch Bestandteil der Risikokalkulationen der Banken sind. Einige Investoren sind daran gebunden, sie dürfen einfach keine Papiere halten, die von AAA auf AA abgewertet wurden. Die Agenturen haben de facto eine formelle Autorität. Der andere Grund hat etwas mit dem Black-Box-Charakter der Sache zu tun. In einem Umfeld, in dem es nur so schlechte Informationen und so wenig Verständnis gibt, herrscht einfach ein Vakuum. Die Leute suchen nach jeder Art von Autorität. Deshalb darf heute jeder, der schon immer als Autorität im Finanzmarkt gelten wollte, in Leitartikeln darüber schwafeln, was Europa bedeutet oder was es jetzt tun sollte. Die Leute hungern nach solchen Autoritäten, die ihnen sagen, was sie denken sollen.
Man kann niemandem trauen, also glaubt man denen, die behaupten, dass sie sich auskennen.
Sie wissen auch nicht mehr als jeder andere. Aber wenigstens sitzen sie da und rechnen alles genau durch. Seltsam ist nur, dass sie die Staatsanleihen auf einmal so aggressiv herabstufen. Das sieht ein wenig aus, als wollten sie damit ihr schlechtes Verhalten in der Immobilienkrise wiedergutmachen. Sie wollen zeigen, dass sie auch hart sein können. Das funktioniert leider nicht ganz, weil sie diesmal einfach anders bezahlt werden. Sie haben gar nicht den gleichen Anreiz, korrupt zu sein.
Aber sie wissen doch sehr gut, dass ihre Bewertungen zu „self fullfilling prophecies“ werden. Insofern ist es doch auch jetzt schwer vorstellbar, dass hinter ihren Ratings keine Strategie steckt.
Klar, sie können das Problem selbst schaffen, das sie vorhersagen. Ich glaube, der nächste große Skandal wird etwas mit Insiderhandel im Zusammenhang mit solchen Herabstufungen zu tun haben. Für jemanden, der bei Standard Poor’s arbeitet, wäre es so unglaublich reizvoll, die Informationen vor der Veröffentlichung an irgendeinen Hedgefonds-Typen durchsickern zu lassen - und es wäre so schwer zu verfolgen. Ich wette, dass wir in den nächsten Monaten sehen werden, dass sie immer noch korrupt sind, nur auf andere Weise.
Warum werden Staatsschulden denn heute überhaupt so ernst genommen? Dass Staaten astronomische Schulden haben, das wurde früher doch weitgehend akzeptiert. Niemand kam auf die Idee, man müsse das alles sofort zurückzahlen können.
Das stimmt: Es geht nicht um die Fähigkeit, die Schulden zurückzahlen zu können, sondern um die Bereitschaft. Wenn es Griechenland für die wichtigste Sache auf der Welt halten würde, seine Schulden zu bezahlen, dann könnten sie das. Sie könnten ja wirklich die Akropolis verkaufen. Dass sich aber die Einstellung geändert hat, liegt schon an der Höhe der Schulden. Sicher, die war immer sehr groß, aber irgendwann wurde sie zu groß. Die Frage ist, ab welchem Punkt ein Land seine Schulden nicht mehr tragen kann. Ganz einfach: Wenn der Markt denkt, der point of no return ist erreicht, dann ist er erreicht. Dass Schulden heute ernster genommen werden, hat viel mit den Erfahrungen von 2008 zu tun, als Leute, von denen man niemals gedacht hätte, sie könnten ihre Schulden nicht zurückzahlen, ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten. Die nächste Frage war natürlich: Wer kann noch alles seine Schulden nicht zurückzahlen? Und früher oder später kommt man dann eben auf Griechenland.
Damit Märkte funktionieren können, braucht man aber ein Mindestmaß an Vertrauen. Wir müssen an die Versprechen glauben können, die wir uns gegenseitig geben. Wer ist schuld daran, wenn das nicht mehr funktioniert? Gibt es strukturelle Fehler im Markt? Ist alles zu kompliziert geworden? Oder haben die Schiedsrichter nicht gut genug aufgepasst?
Das ist das größte Problem: dass die Schiedsrichter aus dem Spiel verschwunden sind. Und einer der Gründe für ihr Verschwinden ist, dass alles so kompliziert geworden ist. Die Menschen, die eigentlich als Schiedsrichter vorgesehen waren, wurden dafür bezahlt, nicht mehr aufzupassen. Das sind die Banker. Die Banker müssen die Bremse sein, sie dürfen einem Erdbeerpflücker keine Millionenkredite geben, die er nicht zurückzahlen kann. Das Problem ist, dass die Entwicklung der Kapitalmärkte dazu führte, dass sie den Gläubigern ermöglichte, Geld zu verdienen, auch wenn der Erdbeerpflücker nicht zurückzahlt.
Die Frage bei der Schuldenkrise ist doch dieselbe wie bei der Immobilienkrise: Waren alle nur blind? Oder auch kriminell?
Ich hoffe sehr, dass eines Tages die wichtige Frage beantwortet werden wird: Wer wusste was wann? Als ich in Griechenland war, hatte ich den Eindruck, dass die Regierung vor dem Rest Europas schon sehr gut verborgen hat, was sie da tat. Die Leute vom IWF waren wirklich vom Zustand der griechischen Finanzen schockiert, als sie ankamen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Brüssel niemanden gab, der es wusste. Es hatte nur keiner einen Grund, Alarm zu schlagen.
Offensichtlich haben alle lieber an die Erfolgsgeschichten geglaubt als an die Zahlen.
Diese Geschichten sind entscheidend. Es gibt all diese Menschen, die fieberhaft die Zahlen analysieren, um herauszufinden, an welchem Punkt der Euro nicht mehr überleben kann, weil die Schulden zu hoch sind. Das ist eine interessante Rechenaufgabe. Aber es bringt nichts. Wie gesagt, es geht nur um die Bereitschaft zu zahlen. Wir haben es nicht mit Physik zu tun, sondern mit Psychologie. Wenn sich die Griechen die Geschichte erzählen, dass sie kein Interesse daran haben, die Schulden zurückzuzahlen, dann werden sie nicht zahlen, völlig egal, was die Zahlen sagen.
Wenn die Fiktion mächtiger ist als jede Analyse: Kann sie uns nicht auch wieder aus der Krise heraushelfen?
Da sind wir wieder bei der Black Box. Keiner weiß, was da drin ist, aber jeder erzählt Geschichten. Und diese Geschichten treiben den Markt an. Und der Markt treibt Geschichten an. Wenn jemand eine richtig gute Geschichte erzählt, wie die Black Box die Welt rettet, und wenn genug Menschen daran glauben, dann gehen die Zinsen runter, und die Welt wird auch gerettet.
Wer sind denn die Helden und die Schurken in dieser Geschichte? Oder gibt es nur smarte Manager und blöde Deutsche?
Haha. Ich glaube, die Deutschen sind gar nicht so dumm. Tatsächlich stellen sich die deutschen Werte wirtschaftlich gerade als die richtigen heraus. Und ich glaube, es geht ihnen in erster Linie gar nicht darum, dass sie ihr Geld nicht verlieren wollen, sondern darum, dass vernünftiges Verhalten ermutigt wird. Sie wollen nicht das schlechte Benehmen der anderen Länder belohnen. Das würde nämlich im Chaos enden. Aber Sie haben nach den Schurken gefragt. In der Schuldenkrise ist es schwer, die Schurken auszumachen. Ich kann die Haltung der einzelnen Akteure gut verstehen, sogar die der korrupten Griechen. Ich würde vermutlich auch Steuern hinterziehen, wenn ich Teil einer Gesellschaft wäre, in der das alle tun. Es gibt vielleicht einige Züge in einer Kultur, die bösartig sind, aber Einzelpersonen- kaum.
Was ist denn mit den Leuten von Goldman Sachs, die offensichtlich völlig den Bezug zur Wirklichkeit verloren haben?
Okay, jetzt bringen Sie mich in Fahrt. Natürlich sind das Schurken, nicht nur die Leute von Goldman Sachs, sondern die gesamte amerikanische Finanzkultur. Ich finde es unfassbar, dass Banker von Goldman Sachs den Griechen geholfen haben, ihre Bücher zu fälschen, damit die in die EU kommen. Sie wussten, was sie taten. Wenn die das mit einem Unternehmen gemacht hätten, wären die alle im Gefängnis. Die wären alle im Gefängnis! Weil es eine Regierung war, war es anscheinend irgendwie legal. Aber es war eindeutig unmoralisch. Es ist atemberaubend falsch.
Glauben Sie, dass all dieser Wahnsinn der Märkte, die Abgründe, die jetzt überall sichtbar werden, das kapitalistische System verändern oder zum Einsturz bringen werden?
Verändern ja, zum Einsturz bringen nein. Wenn wir uns eine Welt vorstellen könnten, die keine Erfahrungen mit extremem Kommunismus oder Sozialismus gemacht hätte, wenn wir uns nicht daran erinnern könnten, dass wir das schon ausprobiert haben und gescheitert sind, wäre das genau das, was wir jetzt tun würden. Es gäbe eine gewaltige ideologische Bewegung gegen den Kapitalismus - und sie wäre sehr mächtig. Sie würde im Handstreich die Macht erobern, die Banken wegfegen, Vermögen verstaatlichen und so weiter. Aber weil wir wissen, dass es nicht funktioniert, sitzen wir in der Falle. Es gibt keinen naheliegenden Ort, an den wir gehen könnten. Das ist wie mit der Demokratie, sie ist immer noch das geringste Übel. Das ist der Zustand, in dem sich der Kapitalismus heute befindet. Die Tea Party und die Occupy-Wall-Street-Bewegung sind Reaktionen darauf.
Aber sind diese Bewegungen nicht vor allem Symptome der Krise? Können sie etwas bewirken?
Oberflächlich sieht es so aus, als ob sie schon geschlagen sind, sie wurden aus den Parks vertrieben. Aber ich glaube, das wird eine große Kraft in der amerikanischen Politik. Ich wundere mich eigentlich, warum das so lange dauert. Ein paar Privilegierte machen es sich in einem sehr angenehmen Sozialismus gemütlich und werden von ihrer Regierung unterstützt, die anderen müssen die volle Härte des Kapitalismus ertragen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen.
Was wird passieren?
Ich glaube, wir werden zu einem Kapitalismus kommen, der sich selbst skeptischer betrachtet, der sich gewissermaßen zynischer gegenübersteht. Einem Kapitalismus, in dem die Arbeit von Aufsichtsbehörden anerkannt wird. Dass Menschen dort arbeiten wollen, weil sie glauben, dass es wichtig ist. Das denkt heute kein Mensch. Jeder, der in Amerika dort arbeitet, tut das nur, um Zugang zu dem Markt zu bekommen, den er beaufsichtigt. Aber es wird eine Weile dauern, bis es so weit ist. Und es wird ein sehr harter Weg werden. In der Zwischenzeit werden wir sehr viel Anarchie erleben, Terrorismus, Bomben, Morde, Gewalt.
Ihr Buch hat im Original den Untertitel: „Reisen in die neue Dritte Welt“. Sie leben in Kalifornien, sehen Sie auch dort schon Zeichen eines Entwicklungslandes?
Ja. Der Polizeichef von Vallejo...
...der bankrotten Stadt in Kalifornien, die Sie für Ihr Buch besucht haben...
... sagte mir ins Gesicht: „Sie sind in meiner Stadt nicht mehr sicher.“ Es ist unglaublich, dass ein amerikanischer Polizeichef so etwas sagt, normalerweise behaupten sie immer das Gegenteil. In Amerika erleben wir, wie der öffentliche Raum immer mehr verfällt und es dem privaten immer einfacher gemacht wird, sich auszubreiten: Das sind eindeutig Dinge, die man mit einem Land der Dritten Welt verbindet. Und natürlich eine Regierung, die unfähig ist, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen.
Das Interview führte Harald Staun.
Quelle: F.A.S.
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Im Gespräch: Michael Lewis: Wer wusste was wann?
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Wer wusste was wann?
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Der Bestseller-Autor Michael Lewis spricht im Interview über die Psychologie der Schuldenkrise, die Geburt eines skeptischen Kapitalismus und deutsche Strategien.
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