Egon (Name geändert) leidet an ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) und kann sich nicht auf den Schulunterricht konzentrieren. Die Lehrerin empfiehlt den Eltern, dem Jungen Ritalin zu geben. Diese lehnen ab. Darauf die Pädagogin: «Wenn Ihr Kind kurzsichtig wäre, würden Sie ihm auch nicht eine Brille verweigern.» Dies ist kein Einzelfall. Es kommt nicht selten vor, dass Eltern unter Druck gesetzt werden, damit ihr Widerstand gegen das Medikament bricht.
Doch es gibt auch verunsicherte Eltern, die befürchten, dass ihr Kind später im rauen Wind der Arbeitswelt nicht bestehen kann oder den Klassenverbund übermässig stört. Caroline Mall ist Baselbieter Landrätin (SVP) und Mutter von drei Kindern. Sie kämpft darum, dass die Öffentlichkeit besser über Methylphenidat (Grundsubstanz von Ritalin) informiert wird. «Es hat Folgen, wenn schon sechs-, siebenjährige Kinder Ritalin nehmen», sagt sie.
Mall ist in der Bildungskommission, seit Jahren im Reinacher Schulrat und Mutter eines ADHS-betroffenen Kindes. Es nimmt stets dann ein Medikament auf Methylphenidat-Basis wenn es zur Schule muss. «Betroffene Kinder funktionieren nicht so, wie es die Schule erwartet», stellt Mall fest. Sie gibt ihrem Sprössling das Mittel schweren Herzens. «Es ist kein schönes Gefühl», sagt sie.
Schule müsste anders sein
Methylphenidat wirkt im Gehirn. Es senkt den Spiegel des Botenstoffs Dopamin, der für die Impulse zuständig ist. Es wird also sozusagen das innere Impulssystem abgestellt. Wer Ritalin nimmt, hat weniger das Bedürfnis nach Nähe. Er braucht jedoch auch weniger Schlaf und verspürt weniger Hunger und Durst. Kinder mit der Aufmerksamkeitsstörung ADS und ADHS bekommen es, um den disziplinarischen Anforderungen der Schule zu genügen.
Ueli Keller, Erziehungswissenschaftler und «Bildungsnetzwerker» aus Allschwil, ist überzeugt, dass viel weniger Medikamente eingesetzt werden müssten, wenn die Schule anders organisiert wäre. «Man müsste auf die individuelle Leistungsfähigkeit und die Begabungen der Kinder eingehen», sagt Keller. Die Standardisierung und Regulierung sei der Tod der Kreativität und Freude am Lernen. «Man kann Kinder mit Ritalin ruhigstellen oder man kann die Schule so organisieren, dass alle ihren individuell bestmöglichen Erfolg erleben», so Keller. Der Ritalinkonsum in der Schweiz hat seit der Jahrtausendwende etwa um das Neunfache zugenommen.
Medikamentisierung von Kindern nimmt zu
Während im Jahr 1999 pro Jahr noch 38 Kilogramm Methylphenidat an den Detailhandel geliefert wurden, waren es im Jahr 2011 schon 343 Kilogramm. Diese Zahl ist mit 326 Kilogramm im Jahr 2012 zwar leicht gesunken. Allerdings wurden die Liefermengen erstmals direkt erhoben, was zuverlässigere Angaben ermöglichte. Das Jahr 2013 ist noch nicht ausgewertet. Und schon wittern die Pharmaunternehmen einen neuen Markt: Immer häufiger erhalten auch Erwachsene die Diagnose ADHS.
In der Schweiz sind die Angaben zum Thema Methylphenidat dünn. Es gibt weder Studien über die Langzeitwirkungen einer Einnahme noch werden die Mengenangaben nach Region oder Altersgruppen unterteilt. Und dies, obwohl es ein Leichtes wäre, genauere Daten zu erhalten. Das Medikament fällt nämlich unter das Betäubungsmittelgesetz und daher ist jede Verschreibung meldepflichtig. Doch die Pathologisierung und Medikamentisierung von Kindern nimmt zu: So ergeben Schätzungen von erfahrenen Pädagogen, dass in jeder Klasse zwei bis vier Kinder sitzen, die Ritalin einnehmen.
Dass diese Stimulanzien unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, kommt nicht von ungefähr. Methylphenidat gehört zur Gruppe der Amphetamine und wirkt in höheren Dosen wie Kokain oder Speed. Letzteres war die Droge der 68er-Generation. Heute noch greifen Drogenkonsumenten gerne hin und wieder zu einer Dosis Ritalin, wenn sie sich aufputschen wollen. Auf der Gasse können sie Tabletten für einige Franken das Stück kaufen. Niedriger dosiert hilft es Kindern wie Erwachsenen, die Gedanken besser zu kanalisieren. «Wenn Eltern wüssten, welche Droge Ritalin ist, würden sie sich die Abgabe an ihr Kind genau überlegen», sagt Felix Altorfer, Initiant der Arbeitsgruppe «Nein zu Psychopharmaka» in Bern.
Umsatz von 593 Millionen Dollar
Auch die UNO dürfte im kommenden Jahr eine Empfehlung an die Schweiz abgeben. Der Schweizer Soziologe und Repräsentant der Internationalen Vereinigung der Sozialarbeiter an der UNO, Pascal Rudin, ist der Meinung, dass die Verschreibung von Ritalin gegen das Aufmerksamkeitsdefizit ADHS bei Kindern in 95 Prozent der Fälle überflüssig sei: «Es werden Kinder stigmatisiert, nur weil Ritalin kurzfristig funktioniert und effizient ist», sagte er. Doch der Vertrieb von Ritalin ist ein Milliardengeschäft geworden. Im Jahr 2013 machte allein Novartis mit Ritalin weltweit einen Umsatz von 594 Millionen Dollar. Kein Wunder, dass sich in der Schweiz keine Pharmafirma findet, die Studien zu nicht-medikamentösen Hilfen bei ADHS finanziert.
Pascal Rudin verweist jedoch auf die amerikanische MTA-Studie (Multimodal Treatment Approach). Dabei ergab die Untersuchung an 579 Kindern, dass die Einnahme von Methylphenidat nach 14 Monaten zwar Vorteile zeigte. Nach drei Jahren Einnahme jedoch waren diese nicht mehr nachweisbar und es zeigten sich sogar Nachteile gegenüber nicht-medikamentöser Hilfen. Die erhofften positiven Effekte auf Suchtverhalten und Delinquenz blieben trotz Ritalin aus. «Diese Studie zeigt, dass wir die Vergabe von Ritalin neu überdenken müssen», sagt Rudin. Derzeit werde das Medikament jedoch oft jahrelang und ohne adäquate Diagnose verschrieben.
Beunruhigende Antworten zu Langzeitkonsum
Dies bestätigen auch Erfahrungsberichte von Betroffenen: So fragt sich ein 21-Jähriger bange, ob er wohl gesundheitliche Folgen fürchten müsse. Er nehme seit seinem sechsten Lebensjahr Ritalin. Die Antworten, die er im Blog erhält, sind nicht eben beruhigend. Da teilte ihm einer mit, dass auch er mit sechs Jahren begonnen habe. Zunächst mit zehn Milligramm. Diese Dosis habe er im Laufe der Zeit erhöhen müssen. Als Jugendlicher sei er auf einer Dosis von 38 Milligramm gewesen und habe starke Depressionen bekommen. Mit 18 Jahren habe er beschlossen, nichts mehr zu nehmen. «Meine Gefühlswelt spielte völlig verrückt, und ich hatte das Gefühl, ganz dringend Ritalin zu brauchen, um nicht durchzudrehen.»
Mittlerweile ist man jedoch im Erfinderland Schweiz kritischer geworden. Vorstösse auf kantonaler und nationaler Ebene fordern eine bessere Kontrolle der Verschreibung von Ritalin. Gleichzeitig hat der Bundesrat einen Bericht in Auftrag gegeben, der allfälligen Handlungsbedarf bei der Verschreibung und Anwendung aufdecken soll. Bis Ende 2014 sollen die Resultate veröffentlicht werden.
Auch die Bemühungen von Landrätin Caroline Mall im Kanton Baselland sind auf offene Ohren gestossen. Zumindest hat sich der Kantonsapotheker Hans-Martin Grünig bereit erklärt, abzuklären, ob die Thematik im Rahmen einer pharmazeutischen Masterarbeit bearbeitet werden könnte. (Basler Zeitung)
(Erstellt: 01.05.2014, 15:51 Uhr)