„Ich sehe den Menschen im Mörder“

WELS. Unter dem Titel „Wenn Menschen töten“ hat die Welserin Heike Lettner (35) ihr erstes Buch veröffentlicht. Die Welser Zeitung hat die Psychologin dazu befragt.




Welser Zeitung: Frau Lettner, kann jeder zum Mörder werden?

Lettner: Ich denke, die Antwort darauf ist Ja. Es kommt natürlich immer auf die jeweilige Persönlichkeit und auf die Situation an, in der sich jemand befindet. Denken Sie nur an Kriegssituationen – oder es würden Ihre Familie oder Ihre Kinder bedroht werden.

Welser Zeitung: Welche Umstände müssen zum Tragen kommen, damit jemand so eine Tat begeht?

Lettner: Es wird niemand böse geboren. Im Leben gibt es verschiedene Einflussfaktoren – Biologie, Sozialisation und Psychologie . Habe ich als Kind viel Gewalt erlebt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich später Gewalt anwende, höher. Treten in der Familie gehäuft psychische Erkrankungen auf, ist auch mein Erkrankungsrisiko höher und das Risiko, eine Gewalttat zu begehen.

Welser Zeitung: Wie kann es dann zum Äußersten kommen?

Lettner: Es gibt dann irgendwann einen Auslöser, der zur Eskalation führt. Man muss dabei unterscheiden, um welche Art von Gewalttat es sich handelt. Ich kann eine Beziehungstat nicht mit einem Mord im Rotlichtmilieu vergleichen.

Welser Zeitung: Wie definieren Sie böse?

Lettner: Eine allgemeine Definition von „böse“ ist nicht möglich. Es gibt kaum Einigkeit, wer oder was böse ist. Es ist ein Graubereich. Es kommt darauf an, ob man es aus dem religiösen oder moralischen Blickwinkel betrachtet. Ein Beispiel: Bei einem Bankraub kommt jemand zu Tode. Auf der anderen Seite gibt es etwa einen Mörder, der ein Kind vergewaltigt und tötet. Beides ist tragisch. Aber wenn wir ehrlich sind, wird der Kindsmörder als „böser“ empfunden.

Welser Zeitung: Sie beschäftigen sich mit Mord und seinen Ursachen. Wie wurde das zu einem Lebensthema?

Lettner: Als ich etwa 15 Jahre alt war, habe ich begonnen, mich mit diesem Thema näher zu befassen. Ich habe viele Bücher gelesen, vor allem Non-Fiction, etwa von FBI-Agenten oder klassische Serienmörder-Biografien. Irgendwann habe ich beschlossen, dass ich in diesem Feld arbeiten möchte.

Welser Zeitung: Sie hatten ein ungewöhnliches Hobby für eine 15-Jährige ...

Lettner: Ich hab mich auch für Kino und Fortgehen interessiert. Ich war keine komische Jugendliche (lacht).

Welser Zeitung: Was genau macht für Sie das Faszinierende – auch in Hinblick auf die Medienberichterstattung – am Thema Mord aus?

Lettner: Ich denke, dass die Toleranzgrenzen sich ändern. Es braucht oft immer mehr und immer Tragischeres, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu bekommen. Wir wollen aber genau wissen, wer wen wann wie und womit getötet hat.

Welser Zeitung: „Ein Mörder ist ein psychisch gestörter Mann.“ Wie kommt es zu solch stereotypen Ansichten?

Lettner: Ich denke, dass diese meist durch Medien, Film und Fernsehen geprägt sind. Ich kann aus meiner Erfahrung sagen, dass ich zu Beginn meiner aktuellen Tätigkeit sehr viele Vorurteile und stereotype Vorstellungen hatte. Ich habe dann gemerkt, dass diese erstens hauptsächlich medial bedingt sind und zweitens falsch sind.

Welser Zeitung: Welche Vorstellungen?

Lettner: Ich habe mir teilweise überlegt, was ich anziehe. Ich dachte mir, eine bestimmte Farbe könnte bei einem Straftäter etwas auslösen, was mich in Gefahr bringt. Man merkt schnell, dass es Unsinn ist.

Welser Zeitung: Wie können sich die Psychologie und die Biologie eines Mörders von denen eines „normalen“ Menschen unterscheiden?

Lettner: Forschungen haben schon Unterschiede aufgezeigt, zum Beispiel in verschiedenen Gehirnregionen, die Informationen anders verarbeiten. Aber es gibt auch Unterschiede in der Psyche, die häufig in der Kindheit begründet liegen. Gewalterfahrungen, Missbrauch, Verwahrlosung prägen ein Kind und seine Lernerfahrungen.

Welser Zeitung: Was sehen Sie, wenn Sie einen Mörder sehen?

Lettner: Ich sehe den Menschen. Auch wenn das für viele vielleicht wenig nachvollziehbar erscheint, so könnte ich meine Arbeit (mit geistig abnormen Rechtsbrechern, Anm.) nicht machen, wenn ich nicht den Menschen in den Vordergrund stellen würde.

 

Ein Buch mit vielen Erklärungen, ohne Entschuldigungen

„Das Buch zu schreiben war ein wahnsinniger Stundenaufwand. Ich hatte für längere Zeit kein freies Wochenende, aber es hat Spaß gemacht“, sagt Heike Lettner. Ihr rund 300 Seiten dickes Werk ist Ende März im Wiener Goldegg-Verlag erschienen. „Der Verlag ist selbst wegen eines Buches an mich herangetreten.“ Darin zeigt die Welserin nun mit neuen Ergebnissen aus der Hirn- und Aggressionsforschung, wie persönliche Bedrohungen jeden extrem reagieren lassen können. Sie versucht weiters, die Hintergründe von Gewalttaten zu erklären und über psychische Erkrankungen, die die Taten begünstigen könnten, zu informieren. „Es geht nicht darum, Entschuldigungen zu finden, sondern Erklärungen.“

Buchtipp: Heike Lettner: „Wenn Menschen töten. Steckt in jedem von uns ein Mörder?“ Um 22 Euro im Buchhandel erhältlich.

Zur Person:

Beruf: Die gebürtige Welserin Heike Lettner arbeitet in einer Justizanstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind klinisch-psychologische Diagnostik und Gefährlichkeits-Prognostik, sprich die Einschätzung von Straftätern.
Erfahrungen: Die Wahl-Wienerin Heike Lettner hat in der Erstaufnahme-Station in Traiskirchen Flüchtlinge betreut und eine Zusatzausbildung in Notfallpsychologie absolviert. Diese Erfahrungen ermöglichen ihr tiefe Einblicke in menschliche Verhaltensweisen. Studiert hat sie in der Bundeshauptstadt und ein Jahr in den USA.

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