Der Mann, den ich seit vier Jahren nicht mehr gesehen habe, heißt Dr. Richard Hagleitner. Mehr als anderthalb Jahre trafen wir uns regelmäßig ein- bis zweimal in der Woche und saßen uns gegenüber. Dr. Richard Hagleitner ist psychologischer Psychotherapeut. Ich hatte gerade mein Studium beendet, lebte eine unentschiedene Liebesbeziehung, war vorübergehend arbeitslos und wusste nicht, wer das sein sollte oder könnte: Ich.
So geht es vielen. Bist du auch in Therapie? Diese Frage wird immer öfter mit ja beantwortet. Die Auseinandersetzung mit uns selbst ist zu einem ziemlich breit angelegten Phänomen geworden. Wir zweifeln an uns, besinnen uns auf uns selbst, machen ein Sabbatjahr, kaufen Ratgeber, treiben Sport oder Yoga oder so. Wir ernähren uns gesund. Wir atmen uns gleich nach dem Aufstehen den Tag zurecht. Und immer öfter suchen wir uns dafür noch professionelle Unterstützung.
Damals mäanderte mein Ich also in meinem Leben herum, der Rest von mir schwamm irgendwie hinterher. „Auf der Makroebene ist der Studienabschluss als auslösende Situation der aktuellen depressiven Episode zu erkennen“, schrieb Herr Hagleitner in seinem Bericht über mich. Ich erspare Ihnen die Mikroebene. Mir ging es wie anderen, und es fühlte sich nicht gut an. Es war kaum auszuhalten. Ich wünschte mir jemanden, der mir sagt, wie das geht: Ich sein. Aber kann, wer danach sucht, sein Ich wirklich finden? Und wer kann einem helfen? Schafft man zu werden, wie man wirklich ist?
Brüche, die uns in die Krise führen, können vielfältig sein: der Studienabschluss, der 30. Geburtstag, berufliche Veränderungen, Trennungen oder Scheidungen, der 40. Geburtstag, Krankheiten, der 50. Geburtstag, Abschiede. Wie jeder Einzelne mit solchen Zäsuren umgeht, ist individuell. Aber Krisen eröffnen uns einen Blick auf uns selbst. Und viele beginnen dann damit, sich neu zu sortieren. Wie bei einem Puzzle, dessen Teile bisher verkehrt herum lagen, beginnen sie, die Bildseite nach oben zu drehen. Was gehört wohin? Beim nächsten Mal wollen sie besser gewappnet sein.
Die Zahl der krankenversicherten Deutschen, die zu einem Therapeuten gehen, steigt. Allein in Bayern erhöhte sich ihre Zahl nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung in den Jahren von 2000 bis 2008 von 90.000 auf 130.000. Selbstzahler und Privatpatienten nicht miteingerechnet. Sind diese Menschen wirklich alle psychisch krank? Oder ist Selbsterfahrung einfach so etwas wie die Mode unserer Zeit?
Gesund oder krank
„Einer, der wirklich krank ist, würde nicht sagen, ich möchte mehr über mich erfahren. Die halten ihr Leben nicht mehr aus“, sagt mein ehemaliger Therapeut Richard Hagleitner. Es ist schwer, eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger kranken Patienten zu machen. Herr Hagleitner schlägt dazu den Begriff Anpassungsstörung vor. Diese Diagnose ist bei Psychotherapeuten sehr beliebt. Man könnte sie auch die Eintrittskarte in die Therapie nennen.
Denn normalerweise sollen Therapien jenen vorbehalten sein, die klinisch krank sind. Menschen, bei denen eine Anpassungsstörung diagnostiziert wurde, die leichteste Form der Depression, sind möglicherweise nicht klinisch krank. Aber sie leiden. Und sie sind viele. Der Verband der Ersatzkassen bestätigt, dass sich die Anpassungsstörung zur häufigsten Diagnose entwickelt hat. Sie liegt gefühlt auf der Grenze zwischen Krankheit und Selbsterfahrung.
Auch bei mir stellte der Therapeut diese Diagnose. Ich hätte mich in meiner Krise natürlich auch an einen der zahlreichen Berater, Coaches oder Experten wenden können. Doch da ich ihnen skeptisch gegenüberstehe und sie nicht hätte bezahlen können, entschied ich mich für eine Psychotherapie. Zudem bekommt man dort eine Diagnose, das erschien mir handfest. Und hinterher war ich erleichtert. Heute allerdings frage ich mich, ob ich es nicht auch allein geschafft hätte.
Jetzt sitzen Herr Hagleitner und ich uns wieder gegenüber. Und nach dem Motto Jetzt-stell-dich-mal-nicht-so-an frage ich, ob ich die Therapie gebraucht hätte. Richard Hagleitner lächelt: „In der Psychotherapie ist nichts so eindeutig. Der klinische Blick unterscheidet anders. Ich schätze, ein Drittel meiner Patienten ist klinisch betrachtet nicht krank. Aber Leidensdruck ist etwas sehr Subjektives.“
War ich also einer von vielen Patienten, die gar nicht klinisch krank sind? Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPK) bestätigt diese Behauptung auf Nachfrage natürlich nicht. Die Psychotherapie heilt offiziell Kranke. Sie hätte es im deutschen Gesundheitssystem schwerer, wenn sie öffentlich erklären würde, sie helfe Gesunden gesund zu bleiben. Doch dazu später.
Langzeittherapien sind antragspflichtig; sie müssen von einem Gutachter genehmigt werden, ehe die Krankenkasse die Kosten übernimmt. Doch neben der Psychotherapie hat sich ein unübersichtlicher Markt von Dienstleistern mit Sendungsbewusstsein etabliert, der wächst und wächst. Die Online-Recherche konfrontiert einen damit in allen Facetten: esoterisch angehauchte Engelsforen; Ratgeberliteratur, die den Weg zur eigenen Mitte zeigen will; Coaches und Experten. Es ist ein Gewerbe im Imperativ: Werde gelassener! Finde dich selbst! Befolge dies, dann erreichst du das! Ich gehöre zu den Vielen, die diesen Markt belächeln. Doch fürchte ich, dass dieses Lächeln eine Arroganz und Besserwisserei jener ist, denen es gerade gut geht.
Denn die Auseinandersetzung mit uns zahlt sich aus. Und wir profitieren nicht nur selbst davon. „Für jeden Euro, der in Psychotherapie investiert wird, können Einsparungen von zwei bis drei Euro erreicht werden“, gibt die BPK an. „Die Bundesregierung schätzt, dass im Jahr 2008 ein Produktionsausfall von 26 Milliarden Euro und ein Ausfall an Bruttowertschöpfung von 45 Milliarden Euro und 18 Prozent aller verlorenen Erwerbsjahre auf psychische Erkrankungen zurückgingen.“ Wer herausfindet, wer er ist und was ihn motiviert, kann bessere Leistungen bringen. Er lebt zufriedener, wird seltener krank. Das ist keine neue Erkenntnis. Doch erst langsam setzt sie sich durch. Die Suche nach uns selbst mag eine Mode sein, aber sie orientiert sich an einem elementaren Bedürfnis.
Das Gute an einer Krise ist, dass wir an uns selbst nicht länger vorbeikommen. Und genau da setzt die Psychotherapie an. Sie stellt einen Rahmen zur Verfügung, der sich im Alltag nicht oft bietet. Die Aufgabe des Therapeuten ist es bei tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Verfahren, Geborgenheit, Empathie und eine ehrliche Haltung zu vermitteln. Und einen geschützten Raum zu garantieren, in dem der Therapeut keine Grenzen überschreitet. Das heißt aber auch, dass er maximal Impulse setzt. „Glücklich machen kann ich niemanden. Ich kann nur nebenher gehen“, beschreibt es Herr Hagleitner. Der Rest liegt beim Patienten.
Das Berufsbild Psychotherapeut ist erst seit dem Jahr 1999 geschützt. Und wer als solcher arbeitet, handelt nach einer rechtlich bindenden Berufsordnung. Ratschläge und Handlungsanweisungen sind verboten. Psychologischer Berater, Coach und Experte kann sich dagegen jeder nennen. Das ist das Resultat einer großen Nachfrage, der die Psychotherapie allein nicht mehr nachkommen kann. Natürlich wird mit diesem Markt Geld verdient. Doch ist das Grund genug, all die Menschen, die in dieser Branche arbeiten, nicht ernst zu nehmen?
„Ratschläge sind auch nur Schläge“, führt Richard Hagleitner einen alten Therapeutenspruch an. Ich erinnere mich, wie oft ich ihn gern an den Schultern gefasst und geschüttelt hätte. Er sollte nicht nur da sitzen und Fragen stellen, sondern mir sagen, was falsch und richtig ist. Vermutlich hätte ich die Krise auch allein gemeistert. Doch mit Therapien verhält es sich wie mit Geburten: Der Schmerz wird schnell vergessen, das Erfolgserlebnis bleibt. Die Frage ist eher, wie lange hätte meine Ich-Geburt ohne Begleitung gedauert?
Coaches und Experten
Oder bietet die von mir so skeptisch betrachtete Lebensberatungsbranche vielleicht gar effektivere Wege zum Ich? Diese Skepsis teilen viele, zu Recht. Denn die psychologischen Berater, Coaches und Experten werden immer mehr. Aber sie werden auch immer besser. Gegen die Skepsis und den Stümperverdacht hat man nun verschiedene Vereinigungen und Verbände erfunden, die wie ein Gütesiegel funktionieren; zum Beispiel den Berufsverband der Trainer, Berater und Coaches. Längst werden dort Methoden entwickelt, die auch in die Psychotherapie Eingang finden. Coaches legen ihren Klienten Therapien nahe, und Therapeuten empfehlen ihren Patienten ergänzende Methoden wie Yoga, Meditation oder eben Coachings.
Sie schicken sie zum Beispiel zu Jan Eßwein. Der Achtsamkeitsexperte ist die beste Werbung für seine Arbeit. Er hält mir die Tür auf, rempelt niemanden im Vorbeigehen an, spricht ruhig und blickt mir beim Gespräch in die Augen. Ich sehe seinem Körper die Yogaübungen und Meditationen an, vielleicht auch die dreiwöchige Diät, die er gerade in Peru gemacht hat. Jan Eßwein ist auch Bestseller-Autor. Vor vier Jahren erschien sein Ratgeber Achtsamkeitstraining, darin vermittelt er ein Programm aus Meditations- und Yogaübungen. Eßwein orientiert sich dabei an der MBSR-Methode („Mindfulness Based Stress Reduction“) des amerikanischen Verhaltensmediziners Jon Kabat-Zinn. Achtsam sein heißt, alles bewusster zu tun: Essen, Atmen, Arbeiten, Zuhören. Das Gegenteil von Multitasking. Die Methode ist in der Fachwelt anerkannt. „Und Studien belegen, Meditierende sind empathischer“, sagt der Achtsamkeitsexperte.
Viele der Berater, Coaches und Experten sind Quereinsteiger. Die Erfahrungen, die sie weitergeben, haben sie oft am eigenen Leib gemacht. Auch Jan Eßweins Weg begann mit einer Krise. Als er siebzehn war, starb ein guter Freund. Er machte eine Ausbildung zum Physiotherapeuten, begann zu meditieren und suchte nach der richtigen Form, um das Erfahrene weiterzugeben. Und er glaubt, dass das auch für andere richtig ist. „Natürlich habe ich ein Sendungsbewusstsein“, sagt Eßwein. Er steht für das, was er tut. Und diese Glaubwürdigkeit ist ein Potenzial. Aber ist das vielleicht auch ein Problem?
Es bleibt die große Frage: Müssen wir uns selbst finden oder können uns andere den Weg zeigen? Bringt es uns weiter, wenn wir uns Methoden aneignen, die uns helfen, mit dem Alltag besser umzugehen? Oder vermeiden wir dann die echte Auseinandersetzung mit der Frage: Wer bin ich? Müssen wir uns verändern oder die Welt, in der wir leben?
Der Arzt und Psychotherapeut Michael Bohne arbeitet als Auftrittscoach für Profimusiker und als Ausbilder für Therapeuten und Coaches. Seine Methode nennt sich Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie, kurz PEP. Eine Klopftechnik, die in Stresssituationen eingesetzt wird. Durch das Klopfen mit den Fingerspitzen, etwa an der Hand, werden im stark beanspruchten Gehirn emotionale Verarbeitungsprozesse angestoßen. Der Patient wird ruhiger und kann den Stress bewältigen. Mit etwas Übung wird PEP zur Selbsthilfetechnik und erleichtert den Alltag. Sie wird erfolgreich in der Traumatherapie eingesetzt, hilft aber auch bei Anpassungsstörungen.
Als Arzt geht Michael Bohne mit den üblichen Verfahren der Psychotherapie hart ins Gericht. „Das ist in manchen Situationen unterlassene Hilfeleistung“, sagt er. Reden funktioniert über die Großhirnrinde und setzt auf Einsicht und Verstehen. Das funktioniert, solange die Patienten emotional ruhig bleiben. Doch in Stresssituationen ist die Großhirnrinde nicht mehr zuständig und mit Reden allein ist kein Durchkommen. PEP rückt langsam in den Fokus und Therapeuten erzielen damit gute Ergebnisse. Seit dem Jahr 2009 hat Michael Bohne rund 1.500 Leute ausgebildet. Aber der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie, der für die Anerkennung von Methoden und Verfahren zuständig ist, lehnt viele neue Ansätze ab. Vertreter anerkannter Methoden urteilen dort über neue Methoden. „Ein ernsthaftes Interesse an Innovationen ist nicht vorhanden“, sagt Michael Bohne. So bleiben zwei Märkte getrennt, die eigentlich zusammengehören.
Die Weichei-These
Es gibt kein Rezept für den richtigen Weg. Die Einen wollen ihr Ich per Selbstreflexion herausfinden, die Anderen wollen es per Methode erleben. Ich bin noch immer bei meiner Ausgangsfrage: Wie werde ich, wer ich wirklich bin? „Die Frage ist sehr wichtig“, sagt Michael Bohne. „Sie enthält den Zweifel: Bin ich das gar nicht?“
Es galt lange nicht als schick, sich selbst infrage zu stellen. Das Privatleben trug man nicht zu Markte und auch nicht zu jemandem, der es beruflich unter die Lupe nimmt. Das ist heute nicht mehr so. Doch nach wie vor fällt vielen diese Auseinandersetzung schwer. Krank sein heißt immer noch, stigmatisiert zu werden. So erleichtert ich war, eine Diagnose zu erhalten, gleichzeitig dachte ich: Okay, jetzt bist du krank. Ich erzählte kaum jemandem davon und wenn ich aus der Therapie kam, habe ich mich gefragt, ob mir jemand etwas anmerkt. Diese Zeit der Therapie erschien mir als eine Zeit der Schwäche. Ich hatte eine andere Vorstellung davon, wie ich sein wollte. Ich schämte mich für mich.
Aber was steht uns eigentlich im Weg? Wir leben doch in einer Welt, die uns scheinbar an jeder Ecke offeriert, sei wer Du sein willst. Dadurch steigt aber auch der Anspruch an unsere tägliche Performance im Job und im Privatleben. Wer will sich da noch aufs Kranksein einlassen? Auf der anderen Seite sind die Diagnosen heute besser und genauer als früher. Die gängige Behauptung, früher wären die Menschen gesünder und widerstandsfähiger gewesen, ist falsch. Die Weichei-These. Tatsächlich haben die Menschen nicht bemerkt, wenn sie krank waren oder blieben im Unklaren über ihren Zustand. Vielleicht hatten sie auch einfach andere Probleme.
Für uns aber ist diese Frage heute ein wichtiges Thema: Wie werde ich, wie ich wirklich bin? Die Weichei-These müsste aus der Welt und auch die Diagnosekategorien krank und gesund. Anstatt Krankheit zu verwalten, sollte das Gesundheitssystem Gesundheit fördern. Licht ins Dunkel des Angebots bringen. Es sollte auch Gesunden helfen, sich an ein besseres Leben zu wagen. Es würde sich dann weniger krank anfühlen. Und wir würden uns weniger vor der Suche nach dem Ich fürchten. „Oft fehlt ja nicht viel, und man findet wieder zu sich selbst. Wirklich ich sein heißt nicht, gesund zu sein“, sagt Herr Hagleitner.
Eines dürfen wir darüber nicht vergessen: Die menschlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Menschen sind keine Computer, sondern profane Zweibeiner, ohne die Option auf zeitgemäße Entwicklung der Hardware. Wir hatten schon immer Krisen und waren schon immer krank. Daran wird sich auf absehbare Zeit wahrscheinlich nichts ändern. Aber die Software, unser Umgang mit uns selbst, die ist veränderbar. Selbsterkenntnis ist ein schmerzhafter Prozess. Sollten wir nicht so weit sein, dieses vermeintliche Scheitern tatsächlich als Chance anzuerkennen?
In der Hirnforschung
Nun wird es langsam Zeit, dass ich mit einer zweiten Wahrheit meiner Recherche herausrücke: Am Ende ist die Suche erfolglos, sie führt ins Leere. Denn auf die Frage „Wer bin ich wirklich?“ gibt es genau genommen keine Antwort. Das Ich ist eine Lüge. Die Hirnforschung ist längst von dieser Idee eines zentralen Ichs abgekommen. Kein Ich-Zentrum, keine erkennbare Seele, die im Gehirn das Kommando hat.
Im Grunde ist das Ich eine metaphysische Erfindung des Christentums und der Philosophie des Geistes. Philosophen von Platon bis Heidegger setzten sich mit der Frage nach Sein und Bewusstsein auseinander. Im Mittelpunkt stand das Leib-Seele-Problem: Ist der Geist etwas Körperliches oder gibt es so etwas Flüchtiges, Nicht-stoffliches wie eine Seele? Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt der Hirnforschung wurde dieses metaphysische Ding im flatternden Gewand zu Grabe getragen.
Wir wissen heute, dass das Ich kein Ding ist, sondern ein Prozess. Es ist plastisch, formbar, passt sich bewusst und unbewusst an seine Umgebung an. Wir sind Ich immer nur im Moment und in der Rolle, die wir verkörpern. Das hindert unser Gehirn aber nicht daran, ein Gefühl für dieses Ich aufzubauen. Und es unternimmt einige Anstrengungen, um in einer komplizierter werdenden Welt bei sich zu bleiben. Hätte ich mir also die Therapie sparen können?
Thomas Metzinger schreibt in seinem Buch Der Ego-Tunnel: „Die Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane ist begrenzt. Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit, als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit.“ Zwischen der Welt, die sich verändert, und dem Menschen im „Ego-Tunnel“ tut sich ein Graben auf.
Metzinger ist Professor für Philosophie und Neuroethik an der Universität Mainz. Er leitet dort die Forschungsstelle Neuroethik und arbeitet interdisziplinär vor allem mit Hirnforschern zusammen. Die junge Neurowissenschaft hilft der alten Philosophie, Geist und Körper neu zusammenzudenken. Der Geist ist nach der Beerdigung der Seele wieder ein interessantes philosophisches Feld geworden. Thomas Metzinger beschreibt das Problem so: „Es gibt kein unabhängiges Selbst, unser Gehirn produziert nur ein inneres Bild davon. Und das erkennen wir nicht als solches, sondern verwechseln uns sozusagen damit.“ Ein Bild verändert sich, es entwickelt Patina, ist formbar und interpretierbar. Aber dieses Bild ist kein Ich. „Die Metaphysik des Ego ist am Ende“, sagt der Bewusstseinsforscher. „Wir dürfen uns auch eingestehen, dass das wehtut. Denn eine ihrer Hauptfunktionen war Sterblichkeitsverleugnung.“ Wir leben also nur Hier und Jetzt.
Und das erhöht den Druck auf unser Leben. Der Soziologe Max Weber hatte 1917 die „Entzauberung der Welt“ verkündet. Die Aufklärung hatte das Magische aus der Welt abgeschafft und damit Religion und Aberglaube. Nur im menschlichen Geist erhielt sich das Metaphysische. Nun geht es auch damit zu Ende. Folgt rund 100 Jahre nach Weber die Entzauberung des Ichs?
Thomas Metzinger bejaht das. „Wir befinden uns in einem historischen Umbruch, der uns vor eine große Herausforderung stellt“, sagt er. Sein Buch, das nun als Neuauflage erscheint, hat er deshalb durch das Nachwort Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit ergänzt. Er fragt nach der Möglichkeit einer säkularen Spiritualität und plädiert dafür, dass wir das Ich-Puzzeln nicht verlernen dürfen.
Die Frage, mit welchen Konsequenzen wir auf das Phänomen der Ich-Suche reagieren sollten, hat die Philosophie erreicht. „Wir bringen unseren Kindern das Zähneputzen bei, aber nicht die geistigen Fähigkeiten zur Erhöhung der eigenen inneren Autonomie. Warum institutionalisieren wir nicht Meditationsunterricht und philosophische Argumentationstheorie an unseren Schulen? Das wäre ein innovativer Weg, den zivilisatorischen Standard unserer Gesellschaft nachhaltig zu erhöhen“, schlägt Thomas Metzinger vor. Etwa meditieren für alle wie Brustkrebsvorsorge? Das hört sich zwar im ersten Moment komisch an, aber sind wir nicht längst auf dem Weg dahin? Geht die Suche damit in Ordnung oder bleibt sie stigmatisiert?
Vier Jahre habe ich darüber nachgedacht, warum ich eines Tages beschloss, mit der Therapie fertig zu sein. Nach einem schönen Sommer bin ich einfach nicht mehr hingegangen. Der Leidensdruck war weg, für Probleme fanden sich Lösungen, es ging mir wieder gut. Dabei hatte sich eigentlich nichts verändert. Mein Ich-Gefühl war immer noch das alte, aber wir waren Freunde geworden. Ich fand es okay, dass es manchmal schlechte Laune hatte oder wütend war. Es durfte jetzt unperfekt und eigen sein, in vielem langsamer als ich es mir wünschen würde. Ich lasse meinem Ich jetzt mehr Zeit.