Ich, Ich, Ich und mein Selfie

Selbst Obama hat es uns schon gezeigt: ein Selfie. Und Lukas Podolski twittert bei der WM ein Selfie mit Angela Merkel. Ich fotografiere und poste mich, also bin ich. Das Oxford English Dictionary machte Selfie 2013 zum Wort des Jahres.

Am Eingang des Orakels von Delphi stand der Spruch "Erkenne dich selbst". Wer eine Frage hatte, sollte nach innen schauen und seine Probleme in der Auseinandersetzung mit sich selbst lösen. In der Psychologie dachte man später, es gebe so etwas wie ein Selbst, das ein Mensch erkennen soll, um im Einklang mit sich selbst leben zu können.

"Erkenne dein Selfie!", sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann im neuen Heft der Zeitschrift "Philosophie-Magazin" (Heft 4, 2014). Heute stellt man das Bild, das man von sich hat, mit ausgestrecktem Arm selbst her. Und zeigt es gegenüber den anderen, damit sie einen so sehen, wie man es möchte.

Selbstbilder sind eine junge Erfindung. Bis zur Renaissance malten die Maler in Europa keine Porträts. Außer von biblischen Figuren. Erst mit den Kaufleuten und Händlern der Moderne erhielt das Ich Bedeutung. Nun entstanden die ersten Porträts, und Schriftsteller begannen, Biografien zu schreiben, wie Goethe eine über den Bildhauer Benvenuto Cellini.

Selfie, Blog, soziale Netzwerke: neue Ich-Präsentation

1979 veröffentlichte der US-Historiker Christopher Lasch dann ein Buch "Das Zeitalter des Narzissmus". Er diagnostizierte einen Verfall von Bindung und Beziehung, der die Menschen noch mehr ichbezogen mache. Zu dieser Zeit konnten sie das Leben des Ich mit Fotoapparaten und Filmkameras festhalten.

Heute ermöglichen Selfies, Blogs und soziale Netzwerke eine neue Form der Ich-Präsentation: vor allen anderen das eigene Leben in Echtzeit mitzuteilen. Wo ich gerade am Strand liege, was ich heute getan habe, mit wem ich jetzt gehe. Alex postet ein Selfie mit Sofie, um aller Welt zu zeigen, dass sie seit heute ein Paar sind. Obama macht ein Selfie mit den Premiers von England und Dänemark.

Jugendliche wachsen in eine Welt hinein, in der es darum geht, dass Ich in der Überfülle des Datenstroms wahrgenommen werde. Dass Ich es schaffe, durch meine Präsentation meiner selbst auf mich aufmerksam zu machen. Ich kann geklickt werden, also bin ich.

Das Ich, heißt es in einem anderen Artikel des Philosophie-Magazins, ist heute auf die Oberfläche des Sichtbaren fixiert. Es lebt dadurch eine ewige Pubertät, in der das "Surren im Fliegenglas des Selbstbezugs" nicht aufhört. Das Orakel von Delphi kann für Ausgleich sorgen: Um zu sehen, wer du bist, schau nach innen – und nicht ins Objektiv deines Smartphones.

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