Hirnforschung: Die große Neuro-Show

Was wurde aus den Verheißungen der Hirnforschung? Wissenschaftler ziehen Bilanz. Sie fällt dürftig aus von Ulrich Schnabel

Frage: Wie verschafft man sich als Forscher heute besondere Autorität?
Antwort: indem man als Hirnexperte auftritt oder zumindest neurologische Studien zitiert.
Egal, ob es um richtiges Lernen oder Marketing geht, um Mitgefühl, Liebe oder politische
Entscheidungsfindung – kaum etwas verleiht einem Standpunkt mehr Glaubwürdigkeit als der
Verweis auf bunte Hirnbilder aus dem Kernspintomografen. Diese scheinen schließlich glasklar
zu belegen, was im Kopf von Lernenden, Liebenden oder Kaufenden
wirklich
vor sich
geht.

Die besondere Aura der Hirnforschung verschafft ihren Vertretern nicht nur Gehör, sie zahlt sich auch finanziell aus. Neurowissenschaftler rekrutieren derzeit enorme Forschungsmittel – wie etwa jene Milliarde Euro, mit der die EU das
Human Brain Project
fördert

(ZEIT
Nr. 6/13); und sie verstehen es, ihr Wissen auch privat zu Geld zu machen – wie der Bonner Hirnforscher Christian Elger, der Bücher über
Neuroleadership
schreibt und auf Werbekongressen auftritt; oder wie sein Bremer Kollege Gerhard Roth, der sich in seiner Firma Roth GmbH als Experte für "Verkaufstraining", "Neuromarketing" und "Unternehmensführung" anbietet.

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Doch wie ist es um die Aussagekraft der bunten Hirnbilder tatsächlich bestellt? Und wo steht die Neurowissenschaft heute, zehn Jahre nach jenem berühmten "Manifest" der Hirnforscher, das 2004 für Aufsehen sorgte? Damals skizzierten elf führende Vertreter – darunter Gerhard Roth, Wolf Singer und Christian Elger – den Stand und die Aussichten ihrer Disziplin; der Ton oszillierte dabei zwischen Demut und Großspurigkeit.

Man werde die Grundlagen von Alzheimer und Parkinson verstehen

Einerseits bekannten die deutschen Hirnforscher bescheiden: "Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet (...), wie das innere Tun als ›seine‹ Tätigkeit erlebt wird und wie es künftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen."

Ungeachtet dessen, prognostizierten sie andererseits "enorme Fortschritte" für die nächsten zehn Jahre: Man werde die Grundlagen von Alzheimer und Parkinson verstehen und diese Leiden "vielleicht von vornherein verhindern oder zumindest wesentlich besser behandeln können". Für Schizophrenie und Depressionen wurde gar gleich "eine neue Generation von Psychopharmaka" in Aussicht gestellt, die "hocheffektiv sowie nebenwirkungsarm" sei und die "Therapie psychischer Störungen revolutionieren" könnte.

Zehn Jahre später ist klar: Von all dem ist nichts eingetreten. Von einem echten Verständnis der Ursachen der Alzheimer-Demenz sind wir so weit entfernt wie 2004, Therapien zur Verhinderung oder Heilung der Krankheit sind bis heute nicht verfügbar; auch die behauptete Revolution in der Therapie psychischer Störungen blieb bislang aus, neue "hocheffektive und nebenwirkungsarme" Medikamente waren pures Wunschdenken.

Zum zehnten Jahrestag des Manifests hat daher eine Gruppe von Neurobiologen, Psychiatern, Psychologen und Philosophen eine Art Gegenmanifest verfasst, ein Memorandum "Reflexive Neurowissenschaft", das scharf mit dem damaligen Papier ins Gericht geht. Die Bilanz falle enttäuschend aus, "eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht", schreiben die Forscher um den Psychiater und Neurologen Felix Tretter, Chefarzt am Isar-Amper-Klinikum München-Ost.

Zwar würde von "klinisch tätigen Ärzten sowie von Patienten und deren Angehörigen" nichts sehnlicher erwartet als Fortschritte der Neurowissenschaften. Doch von solchen sei in der Praxis kaum etwas erkennbar – und das liege nicht etwa an der zu kurzen Zeit oder fehlenden Forschungsgeldern, sondern an grundlegenden "Unzulänglichkeiten im Bereich der Theorie und Methodologie der Neurowissenschaften" – anders gesagt: am fehlenden Verständnis der grundsätzlichen Regeln, nach denen das Gehirn funktioniert.

Sex, Schmerz und Zeitgefühl – all das steckt angeblich im selben Hirnareal

So gilt heutzutage eine Geistesfunktion häufig schon als "erklärt", wenn man im Kernspintomografen zeigen kann, welches Hirnareal dabei aktiv wird. Dummerweise sind solche Zuordnungen alles andere als eindeutig. Darauf hat kürzlich auch der Neuropsychologe Ernst Pöppel hingewiesen. Ihm ist aufgefallen, dass die Inselrinde (Insula) im Cortex offenbar ein artistischer Multitasker ist. Je nach Studie scheint sie mal verantwortlich für negative Emotionen, mal für Körpergefühl, wahlweise auch für Aufmerksamkeit, Schmerz, Sex, Begierde oder Zeitgefühl. "Das ist Unsinn", kommentiert Pöppel, "das ist schlimmer als die Phrenologie vor 200 Jahren".

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