Hängt die Moral von der Sprache ab?


Das bekannte Trolley-Gedankenexperiment als immersive Simulation und als Beleg, dass Menschen das moralische Dilemma utilitaristischer lösen, wenn sie eine Fremdsprache benutzen

Das Trolley-Dilemma ist ein bekanntes Gedankenexperiment für ein moralisches Problem, in dem jede Entscheidung, auch die, nicht zu handeln, dazu führt, dass Menschen getötet werden. Unschuldig kann man dabei nicht sein. Im Gedankenexperiment rollt ein Güterwaggon auf 5 Menschen zu, die überrollt werden, weil sie nicht ausweichen können. Es gibt aber eine Weiche. Wenn diese umgestellt wird, werden die fünf Menschen gerettet, dafür muss aber eine andere Person auf der alternativen Strecke sterben.

In der VR-Simulation konnte man die Weice mit dem Joystick umstellen. Bild: MSU.edu

Die Frage ist, wenn man bei der Weiche steht, ob man diese umlegt. Wenn man die Weiche anders stellt, ist man selbst direkt moralisch verantwortlich, einen Menschen getötet zu haben, auch wenn fünf dadurch gerettet werden. Sind fünf Menschenleben mehr wert als eines? Handelt man nicht, sterben durch Unterlassung fünf Menschen, während einer gerettet wird. Unterlassung ist zwar keine eigene Tat, aber man lässt ein Ereignis mit vorhersehbarem Ausgang geschehen, schließlich tritt das Dilemma erst auf, wenn eine im Prinzip handlungs- und entscheidungsfähige Person vor Ort ist, die Situation überblickt und eingreifen kann.

Das Gedankenexperiment, das zur Entwicklung vieler Varianten angeregt hat, wurde von Psychologen der Michigan State University mittels einer immersiven virtuellen Realität in ein Handlungsexperiment umgesetzt. Die Teilnehmer des Versuchs mussten einen Datenhelm aufsetzen und waren damit in einer virtuellen Umgebung auf einer Plattform über den Gleisen vor dem Schalter einer Weiche präsent, in der sie mit dem Trolley-Problem anschaulich, hörbar und mit den Konsequenzen der Entscheidung konfrontiert wurden. Dadurch wurde es weniger zu einem abstrakten, theoretischen Problem, sondern die Versuchspersonen werden sehr viel stärker emotional beteiligt, weil sie in eine Handlung wie in einem Computerspiel hineingezogen werden. Mit Sensoren an den Fingern wurde der Hautwiderstand gemessen, der ein Indiz für die emotionale Erregung ist.

In der VR-Umgebung hörten die Versuchspersonen, je nachdem wohin der Waggon steuerte, Schreie der Gruppe oder des einzelnen Menschen. Auf der Plattform vor der Weiche konnten sie den Waggon hören und sehen, als er am Horizont auftauchte und größer und lauter werdend auf die Weiche zurollte. Ohne die Weiche umzulegen, würde der Waggon die fünf Menschen töten, die, angeblich um einen Weg abzukürzen, hier in einer engen und tiefen Kluft liefen, so dass sie dem Waggon nicht ausweichen können und ihn auch nicht kommen sehen und hören.

133 der insgesamt 147 Versuchspersonen, also etwas mehr als 90 Prozent, entschieden sich auch hier, die Weiche mit einem Joystick umzustellen, um das Leben von fünf Menschen zu retten, aber in der Folge einen Menschen zu töten, der ebenfalls auf einem Gleis in einer Kluft unterwegs war. Sie waren mithin willens, auch in einer realistischen Simulation das moralische Gebot zu brechen, dass man keinen Menschen töten darf, wenn sie dadurch den Schaden minimieren können. Nur 11 ließen den Waggon weiter fahren und die 5 Menschen töten, 3 hatten zuerst die Weiche umgelegt und sich dann doch wieder dagegen entschieden.

Bei einer veränderten Versuchsbedingung, bei der der Waggon, wenn die Weiche nicht umgestellt wird, nur die eine Person tötet, stellten 94 die Weiche nicht um, 35 stellten sie zunächst um, aber dann auch wieder zurück in die Ausgangsposition, 17 stellten die Weiche um und veranlassten so, dass der Waggon die Gruppe von 5 Personen tötete. Darunter waren allerdings 8 Versuchspersonen, die übersehen hatten, dass sich auf dem anderen Gleis 5 Personen befanden. Mehr als 88 Prozent gehorchten auch in dieser Variante der utilitaristischen Ethik.

Während also die überwiegende Zahl der Menschen einer utilitaristischen Ethik anhängt, also sich für den größten Nutzen für die meisten Menschen zu entscheidet, scheinen einige wenige das moralische Tötungsverbot höher zustellen und dabei die Handlungsfolgen nicht zu berücksichtigen oder keine Güterabwägung zu vollziehen. Die Wissenschaftler stellten allerdings fest, dass die Versuchspersonen, die die Weiche nicht umstellten, also nicht aktiv handelten, besonders emotional erregt waren. Je höher die Erregung, desto weniger wurde die utilitaristische Option gewählt. Der Grund könnte sein, dass sie in einer solchen Situation, in der es keine wirklich richtige Entscheidung gibt, erstarren und handlungsunfähig werden. Dann würden sie weniger aus moralischen Überzeugungen, denn aus der Unmöglichkeit, sich in der erforderlichen Zeit zu entscheiden, handeln oder eben nicht handeln und die Dinge geschehen lassen.

Utilitarismus wird durch emotionale Distanz verstärkt

Einer anderen Spur gingen amerikanische und spanische Psychologen nach, die untersuchten, ob das moralische Gedankenexperiment anders gelöst wird, wenn die Versuchspersonen ihre Muttersprache oder eine Fremdsprache benutzen. Nach Ansicht von manchen sollte die Neigung zu utilitaristischen Entscheidungen mit dem Gebrauch einer Fremdsprache sinken, weil dies die kognitiven Ressourcen beanspruche, die auch zu einer coolen oder rationalen utilitaristischen Abwägung notwendig seien. Die Hypothese der Psychologen war hingegen, dass die Menschen, wenn sie eine Fremdsprache benutzen, weniger emotional seien und dann eher utilitaristisch entscheiden. Das hat sich in den Experimenten auch bestätigt.

Im ersten Experiment sollten sich die mehr als 300 Versuchspersonen vorstellen, dass sie sich auf einer Fußgängerbrücke befinden und auf das Gleis herunterblicken. Wieder würde ein heranfahrender Zug fünf Menschen töten. Wenn sie aber einen schweren Mann von der Brücke vor den Zug werfen würden, könnten sie die fünf Menschen retten, aber der Mann würde getötet. Wenn der Mann heruntergestoßen wird, handelt es sich um eine Opferung eines Menschen, die aktiv begangen wird und dem Verbot widerspricht, einen anderen Menschen zu töten, wenn nicht gehandelt wird, lässt man den abwendbaren Tod von fünf Menschen zu.

Am Gedankenexperiment nahmen Personen aus Südkorea, Frankreich, Israel und den USA teil. Wenn das Dilemma in einer Fremdsprache vorgestellt wurde, entschieden sich 33 Prozent der Versuchspersonen für die utilitaristische Lösung des Dilemmas, wenn sie ihre Muttersprache benutzten hingegen nur 20 Prozent.

Im zweiten Experiment wurde den Versuchspersonen das erste Szenario und auch die weniger emotional aufrührende Version präsentiert, wie sie auch in der VR-Simulation wurde. Beim ersten Szenario (Rettung der Fünf, indem ein Mann von der Brücke gestoßen wird) entschieden sich in der Muttersprache nur 18 Prozent dafür, in der Fremdsprache aber schon 44 Prozent. Je besser jedoch dien Fremdsprache beherrscht wird, desto eher nähern sich die Ergebnisse den Entscheidungen der Muttersprachler. In dem zweiten Szenario kann ein Trolley durch das Umstellen einer Weiche auf ein anderes Gleis gelenkt werden, wo er nur noch einen und nicht mehr die fünf Menschen tötet. Hier entschieden sich noch mehr für die Rettung der Fünf und die Tötung des Einen als beim Szenario auf der Brücke, nämlich mehr als 80 bzw. 81 Prozent der 725 Versuchspersonen, die entweder Spanisch als Muttersprache hatten und Englisch als Fremdsprache verwendeten oder für die umgekehrt Englisch die Muttersprache und Spanisch die Fremdsprache war. Das Umlegen einer Weiche sei eben auch weniger emotional belastend, als einen Menschen von der Brücke zu stürzen, so die Psychologen, auch wenn das Ergebnis dasselbe ist.

In dieser Version spielten auch die Unterschiede in der Sprache keine Rolle mehr. Das lässt allgemein Rückschlüsse auf Techniken zu, die moralische Hemmschwellen senken, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass sie nicht direkt für eine Tat verantwortlich sind, sondern sie sozusagen nur indirekt durch die Betätigung eines Schalters o.ä. auslösen. So etwa wäre auch der Unterschied zwischen der Tötung mittels eines Messers und der aus der räumlichen Distanz mittels einer Schusswaffe oder gar die Bombardierung von Zielen von einem Flugzeug/einer Drohne aus.

Die Psychologen glauben, dass die Abhängigkeit moralischer Entscheidungen von der verwendeten Sprache gerade in einer globalisierten Welt Folgen haben dürfte. So geht Boaz Keysar, Psychologieprofessor an der University of Chicago und einer der Autoren, davon aus, dass etwa ein Schöffe mit Migrationshintergrund in einem Prozess zu einem anderen Urteil kommen könnte als ein Muttersprachler. Durch die Benutzung einer Fremdsprache würden die Menschen risikofreudiger sein, weniger Angst vor Verlusten haben und insgesamt weniger emotional denken. Der Psychologe und Mitautor Albert Costa glaubt, dass Entscheidungsfindungen innerhalb von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union, aber auch bei internationalen Unternehmen durch das Ergebnis der Studie besser erklärt oder vorhergesagt werden könnten, freilich ohne Belege dafür zu geben. Und warum ist das Denken in einer Fremdsprache weniger emotionsgeladen? Mitautorin Sayuri Hayakawa vermutet, dass man eine Fremdsprache in einer weniger emotionaleren Umgebung wie einem Klassenzimmer lernt und manche Inhalte durch die Übersetzung verloren gehen, während man in die Muttersprache von klein an und innerhalb der Familie und Kultur hineinwächst.




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