Gute Wissenschaft braucht Zeit – News Wissen: Medizin & Psychologie … – Tages

«Sorgfaltspflicht verletzt», urteilte vergangene Woche eine Untersuchungskommission der ETH Zürich. Sie verwarnte einen ihrer renommierten Forscher, der zahlreiche manipulierte Abbildungen veröffentlicht hat. Wie dieser ­aktuelle Fall zeigt, werden absichtliche oder unbewusste wissenschaftliche Fehlinformationen oft schonungslos aufgedeckt. Doch bis es so weit kommt, sind falsche Resultate jahrelang in Umlauf und können Schaden anrichten. Das gilt für alle Wissenschaftsbereiche, besonders aber für die biomedizinische Forschung. Wissenschaftliche Irrtümer sind dabei oft methodisch bedingt und fast unvermeidbar. Keine Studie ist gegen Zufälle gefeit, niemand kann alle Faktoren korrigieren, die vielleicht ein Ergebnis verfälschen oder eine Interpretation beeinflussen. Die Frage ist, wie wir mit Irrtümern umgehen. Idealerweise entdecken wir sie, bevor wir sie publizieren.

Verschiedene Analysen zeigen, dass etwa zwei Drittel der Studien nicht reproduzierbar sind. Das heisst zwar, dass immerhin jede dritte Studie nötigen Standards genügt. Doch die schiere Menge der unzuverlässigen Veröffentlichungen ist schlecht für das Ansehen der Wissenschaft, schädlich für die Forscher selber und nicht zumutbar für Menschen, deren Gesundheit von richtigen Informationen abhängt. Der Onkologe Reto Obrist diagnostizierte vor diesem Hintergrund im «Tages-Anzeiger» unlängst eine Glaubwürdigkeitskrise der biomedizinischen Forschung (TA vom 18. 6.). Der bekannte Prionenforscher Adriano Aguzzi entgegnete, dass es ohne Irrtümer nicht gehe, da sie notwendigerweise zur Wissenschaft gehören würden (TA vom 23. 6.).

Ich denke: Das Wissenschaftssystem funktioniert im Grossen und Ganzen gut, doch es gibt Raum für Verbesserungen, welche die angeschlagene Glaubwürdigkeit der Wissenschaft nachhaltig stärken könnten. Gegenwärtig bestehende Fehlanreize führen nicht nur dazu, dass zu viele falsche Ergebnisse den Weg in Fachzeitschriften finden; die gleichen Systemfehler tragen dazu bei, dass es dem wissenschaftlichen Nachwuchs in der Schweiz derzeit nicht besonders gut geht.

Quantität statt Qualität

Im Moment zählt in der Forschung Quantität mehr als Qualität. Die Anzahl der Papers ist immer noch ein wichtiges Bewertungskriterium bei Forschenden. Nur langsam setzt sich zum Beispiel durch, dass bei Berufungsverfahren auf die Güte der fünf wichtigsten Publikationen eines Bewerbers geachtet wird – wobei das Kriterium nicht der Rang der Zeitschrift sein sollte, in der eine Studie publiziert wurde, sondern Originalität, Reproduzierbarkeit und Erkenntnis­gewinn. Solange wissenschaftliches Renommee darauf beruht, dass eine Forscherin oder ein Forscher möglichst schnell möglichst viele Resultate publiziert, verliert die einzelne Studie an Wert. Sie wird zu schnell geplant und durchgeführt und ist dadurch anfälliger für Fehler und Irrtümer. Und sie wird zu schnell veröffentlicht.

Die einzelne, sorgfältig durchgeführte und aussagekräftige Studie aber muss wieder an Bedeutung gewinnen. Wobei aussagekräftig nicht heissen soll, dass ein Resultat anwendungsnah, gesellschaftlich gerade erwünscht oder besonders neu ist; aussagekräftig bedeutet, dass eine Studie zuverlässiges Wissen schafft. Kein Ergebnis sollte publiziert werden, bevor es die Autoren nicht selber repliziert oder genau überprüft haben. Ein einzelnes Experiment ist kein Experiment. Erste vielversprechende Resultate sind nicht viel mehr als ein Verdacht. Um diesen zu erhärten und den Schritt an die Öffentlichkeit zu rechtfertigen, braucht es etwas, was es im heutigen Wissenschaftsbetrieb kaum mehr gibt: Zeit. Charles Darwin sammelte 20 Jahre lang Belege für seine Evolutionstheorie, bevor er sie ver­öffentlichte. So etwas ist heute kaum mehr denkbar. Viel eher hat ein 30-jähriger Forscher über 60 Publikationen. Doch dann sollte wohlwollend geprüft werden, ob alles mit rechten Dingen ­zugeht.

Hemmende Bürokratie

Genügend Zeit für die Forschung ist besonders wichtig für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Allzu oft hört man die Klage von fehlender Verfügbarkeit der Leiterinnen und Leiter von Forschungsgruppen. Die traditionellen Labormeetings sind offensichtlich vielerorts aus der Mode gekommen. In der Klinik schmälern zudem die ökonomischen Vorgaben die Zeit für forschungsorientierte Team­sitzungen.

Wenn dann zusätzlich ein hoher Leistungsdruck herrscht, steigt die Gefahr, dass die Regeln der wissenschaftlichen Integrität und der «Guten Forschungspraxis» nicht mehr eingehalten werden. Das gleiche gilt für die Forschungsregulierung. Die Bürokratie darf nicht überborden (etwa bei der Umsetzung des ­Humanforschungsgesetzes), damit die Forschenden im globalen Wissenschaftswettbewerb bestehen können.

Neben dem verfehlten Fokus auf Quantität sind auch zu starre und hierarchische Strukturen an unseren Universitäten ein Hemmnis für gute Wissenschaft. Dies betrifft insbesondere die klinische Forschung an den Universitäts­spitälern. Forschungsleiterinnen und ?leiter sollten der für die Krankenversorgung verantwortlichen Klinikdirektion gleichgestellt sein. Vor allem braucht es schlicht mehr Wertschätzung für hart­näckige Forschungsbemühungen, auch wenn sie meistens nicht zu aufsehenerregenden Resultaten führen.

Die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise bietet Chancen für Verbesserungen. Wir sollten sie nutzen. Wenn die biomedizinische Forschung am Ende besser dasteht, haben wir viel gewonnen.

* Peter Meier-Abt ist klinischer Pharma­kologe und seit 2011 Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Daneben leitet er unter anderem die Kantonale Ethik­kommission Zürich. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 15.07.2015, 19:53 Uhr)

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