Gräuel und Taten

Steven Pinkers Buch „Gewalt“ trägt in der Übersetzung den irreführenden Untertitel „Eine neue Geschichte der Menschheit“. Pinker, Jahrgang 1954, Professor für Psychologie an der Harvard University, hat ein Werk verfasst, das keineswegs die Geschichte der Menschheit neu schreiben, sondern, mit Blick auf das historische Ganze, einen tiefliegenden Aspekt der Neuzeit erörtern möchte. Dieser Aspekt wird von modernen Moralisten gern geleugnet: Warum, so Pinkers Grundfrage, ging die Gewalt seit dem Ende des Mittelalters immer mehr zurück, und zwar nicht nur da und dort, sondern in allen uns bekannten Erscheinungsformen?

Was an einer solchen Frage provoziert, lässt sich am bündigsten durch die gereizte Gegenfrage ausdrücken: „Ja, ist denn die Gewalt tatsächlich zurückgegangen? Ist unsere Zivilisation nicht immer gewalttätiger geworden, bis zu den Weltkriegen, bis hin zum Holocaust?“ Pinkers Buch liefert eine weit gespannte Betrachtung menschlicher Gewalt unter praktisch jeder erforschten Perspektive. Die Entfaltung und Zusammenführung des Materials ergibt ein detailgespicktes Panorama mit einem hoffnungsreichen Ausblick, der gerade deshalb überzeugt, weil er vom Autor nicht ohne Wenn und Aber vorgetragen wird.

Zunächst erörtert Pinker jene historischen, ökonomischen und sozialpsychologischen Prozesse seit dem Spätmittelalter, die heute unter Fachleuten weithin akzeptiert sind. Im Laufe der Herausbildung von Territorialstaaten und der Etablierung einer zentralen Herrschaft kam es dazu, dass eine wachsende Zahl an Menschen ein Mindestmaß an Sicherheit und Wohlstand erhoffen durfte. Verantwortlich dafür waren die Kodifizierung durchsetzbarer Rechtsordnungen sowie die sukzessive Trennung der gesetzgebenden, richterlichen und exekutiven Gewalt. Was die wirtschaftliche Dynamik angeht, so expandierte, seit den großen Schiffsreisen über Europa hinaus, der Handel in einem vordem unbekannten Ausmaß.

Um gewalttätige Exzesse nach innen und außen wirksam zu unterbinden, musste indes ein weiterer Wandel hinzutreten, den der Soziologe Norbert Elias als „Prozess der Zivilisation“ bezeichnete. An dessen Beginn stand die Übernahme hochadeliger Formen der Gesittung durch das aufstrebende Bürgertum. Die Selbstkontrolle nahm zu und mit ihr der Widerwille gegen das spontane Ausagieren von Affekten. Das Zelebrieren öffentlicher Grausamkeiten, begleitet von der Lust, sich an den Qualen der Opfer zu weiden, wurde schrittweise tabuisiert. Die Idee von Grundrechten, die allen Menschen zustehen, fand freilich erst im 18.Jahrhundert wortmächtige Fürsprecher. Und es dauerte das ganze 20.Jahrhundert hindurch, um die – wie Pinker sagt – „Revolutionen der Rechte“ abzuschließen, darunter Frauen- und Kinderrechte und, im Ansatz, Tierrechte.

Mit besonderer Sorgfalt arbeitet Pinker zwei Thesen heraus, die, obwohl keineswegs populär, für seine Argumentation von erheblichem Gewicht sind. Erstens: Die Vorstellung, dass die frühe Menschheit, bestehend aus Stammesgesellschaften, friedlicher gewesen sei als alles, was später kam, ist nachweislich ein Mythos. Und zweitens: Die Ansicht, dass das 20. Jahrhundert wegen seiner Kriege bei Weitem die meisten Opfer gefordert habe – weshalb es, sogar verglichen mit der Eroberungswut antiker Imperien, den Gipfel an historischer Gewalt markiere –, ist eine Illusion.

Diese Illusion kommt laut Pinker dadurch zustande, dass wir die Opferzahlen nicht in Relation zur Größe der betroffenen Bevölkerungen setzen (ein Vorgehen, das oft als zynisch abgelehnt wird). Darüber hinaus neigen wir dazu, uns fernstehende Kriege zu „verkleinern“, sofern wir sie überhaupt kennen. Und schließlich zieht das Entsetzen über die monströsen Gräueltaten im 20. Jahrhundert eine moralische Verzerrung nach sich: Unser Empfinden kann angesichts von Auschwitz nur noch die „Singularität“ der Entmenschlichung erkennen.

Hier versucht Pinker, aus der Distanz des Forschers, eine – manchem vielleicht fragwürdig scheinende – Klarsicht zu schaffen. Der Zweite Weltkrieg mit seinen 55 Millionen Toten belegt in der Liste selbst verursachter Menschheitskatastrophen „nur“ den neunten Platz. Das schlimmste Blutbad aller Zeiten ereignete sich infolge des An-Lushan-Aufstandes, einer bei uns praktisch unbekannten Rebellion während der chinesischen Tang-Dynastie im achten Jahrhundert. Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung Chinas wurden damals ausgelöscht, das würde, auf das 20. Jahrhundert hochgerechnet, eine Opferzahl von 429 Millionen ergeben. Ein anderes Beispiel ist nicht weniger lehrreich: Berücksichtigt man die jeweiligen Bevölkerungsgrößen, war die Gesamtzahl der Kriegsopfer im 20.Jahrhundert, trotz beider Weltkriege, viereinhalbmal geringer als jene im 16. Jahrhundert. So viel zur „guten alten Zeit“.

Ausführlich beschäftigt sich Pinker mit den evolutionspsychologischen Aspekten der Gewalt. Welche Chancen hat die Menschheit aufgrund ihres genetischen Erbes, den „langen Frieden“ seit den 1950er-Jahren zu bewahren, unbeschadet regionaler Brandherde und globaler Terrorgefahr? Darauf gibt Pinker eine differenzierte Antwort. Einerseits werden die „inneren Dämonen“ des Menschen, namentlich die genetisch begründete Neigung zu Ausbeutung und Raub, Dominanz und Rache, Sadismus und Ideologie, im Rahmen liberaler Demokratien mit zunehmender Bildung zunehmend besser beherrschbar. Andererseits legen die „guten“ Antriebe – „die besseren Engel unserer Natur“ – jeder für sich genommen noch kein eindeutig gutes Verhalten fest; gemeinsam jedoch optimieren sie die Chance auf einen langfristigen Gewaltverzicht.

Dabei betont Pinker nachdrücklich, dass die „besseren Engel“, nämlich Einfühlung, Selbstbeherrschung, Moral und humanitäres Tabu („die Würde des Menschen ist unantastbar“), einzig unter der Voraussetzung kontinuierlichen Vernunftgebrauchs dauerhaft wirksame Instrumente zur Friedenssicherung sind. Das ist eine Bestätigung für das „Projekt Aufklärung“, dem gerade im 20.Jahrhundert immer wieder unterstellt wurde, die Gewalt des Mythos zu brechen, bloß, um neue, noch schrecklichere Gewalten – Stichwort: Atombombe – zu entfesseln.

Auch wenn dem einen oder anderen Leser an Pinkers Buch suspekt sein mag, dass es akkurat die Religion nicht unter die „besseren Engel“ reiht, steht außer Frage, dass bisher keine gründlichere Aufarbeitung des vielfältigen Gewaltphänomens geschrieben wurde. Dennoch muss ein solch monumentales Unternehmen damit rechnen, dass sich verschiedene Kritiker zu Wort melden. Jedoch scheinen die bisher vorgebrachten „Widerlegungen“ vorwiegend auf Kurzschlüssen zu beruhen, die man aus den Diskussionen der Vergangenheit zur Genüge kennt.

Am wenigstens überzeugend ist jenes Argument, wonach viele Denker der Aufklärung doktrinär und antiliberal waren und daher, wie es der britische Philosoph John N. Gray formuliert, dem „großflächigen Gebrauch politischer Gewalt zuneigten“. Denn obwohl dieses Argument, historisch betrachtet, offenkundig stimmt, ignoriert es die Entwicklung der ethischen Haltung, die sich im Westen seit dem „Zeitalter der Aufklärung“ mehr und mehr durchsetzt.

Man darf eben den Vernunftgläubigen des 18.Jahrhunderts nicht mit dem gleichsetzen, wofür er rückblickend steht, nämlich für ein um Rationalität bemühtes Denken, das in der Moral nach Prinzipien sucht, um die „Dämonen“ wirksam einzudämmen. Gleichzeitig sollen die „besseren Engel“ davor bewahrt werden, die Fratze des Tugendterrors anzunehmen. Am heilsamsten erwies sich jene Strategie, die – ausgehend von der Gleichwertigkeit aller Menschen – niemand mit unnötigem Leid belasten möchte, ohne deswegen eine Glücksethik um jeden Preis zu forcieren. Dem Glück dürfen weder Freiheit noch Gerechtigkeit, noch gar die menschliche Würde geopfert werden. Es bedarf stattdessen einiger Grundsätze, die absolut gelten. Das sind die Menschenrechte.

Zusätzliche Einwände gruppieren sich um das Gleichheitsprinzip. Als fundamentales Diskriminierungsverbot sorgt es erst dafür, dass jede Schlechterstellung Einzelner oder ganzer Gruppen eine Rechtfertigung erfordert, die nicht auf Herkunft, Geschlecht, Religion oder sozialer Stellung basiert. Wie aber könne man – so der plakative Einwand– die „Gleichheit“ der Menschen angesichts ihrer realen Unterschiedlichkeit mit der Vernunft allein begründen? Und außerdem: Haben sich die Herren dieser Welt nicht stets auf ihre angestammte Stellung berufen, die ihnen von vornherein mehr Rechte eingeräumt hat als den sozial Niedergestellten?

Ja, offensichtlich. Trotzdem ist es bemerkenswert, wenn ein derart kurzsichtiges Argument plötzlich in der „New York Times“ auftaucht, vorgebracht von Gary Cutting, der an der katholischen University of Notre Dame, Indiana, Philosophie unterrichtet. Denn das Gleichheitsprinzip hat sich schrittweise aus der Einsicht entwickelt, dass der Schutz grundlegender Interessen ohne Ansehen der Person sowohl für die Befriedung als auch für das Wohlergehen der breiten Masse wesentlich ist. Falls den Herren dieser Welt daran nichts liegt, so fürchten sie doch den Aufstand des „Pöbels“– die Revolution der hungrigen Mägen und geschundenen Leiber. Sie sind daher aus rationalem Eigeninteresse sukzessive bereit, ihre Privilegien abzubauen und auf das Gleichheitsprinzip einzuschwenken.

Schließlich beanstanden die Kritiker, Pinker verharmlose den Umstand, dass die entwickelten Nationen ihr Gewaltpotenzial nicht verringert, sondern bloß in die unterentwickelten Regionen der Welt ausgelagert hätten. Das stimmt zwar, geht aber am entscheidenden Punkt vorbei. Die Brutalitäten der Kolonialisierung sind heute unbestritten. Ebenso herrscht Einigkeit darüber, dass der Westen weiterhin durch ökonomische und politische Intervention „strukturelle Gewalt“ ausübt. Er macht sich an Ausbeutung und Wohlstandsverhinderung schuldig, von der verdeckten Unterstützung brutaler Diktaturen ganz zu schweigen. Doch das ist eben nur die eine – „dämonische“ – Seite einer globalisierten Zivilisation, deren andere Seite darin besteht, der eigenen Verbrechen bewusst zu sein und sie permanent an den Pranger der Massenmedien gestellt zu sehen.

Dadurch wird schließlich, kraft „ethischer Infektion“, auch die Stabilität der vom Westen hofierten Terrorregimes brüchig. Die massiven Effekte des Trommelfeuers an kritischer Information sind erst jüngst im Arabischen Frühling sichtbar geworden (wobei – wer weiß? – die Zukunft der laufenden Volksaufstände gegen etablierte Tyrannen weniger gewaltfrei sein mag, als dies unter einer universalmoralischen Perspektive statthaft wäre).

Auffällig ist, dass sich unter Pinkers heftigsten Kritikern darwinistische Kulturtheoretiker und christlich geprägte Denker finden. Das erweckt den Eindruck, als ob bestimmte Fraktionen der Gelehrsamkeit noch immer Schwierigkeiten hätten, der menschlichen Vernunft den ihr gebührenden Platz einzuräumen – neben dem Diktat der Gene und jenem des Heiligen Geistes. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2011)

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