Geografie-Unterricht im Zug

Zugfahren bildet. In vielen Disziplinen, etwa im Fachgebiet Psychologie: Wie verhalten sich Menschen, wenn sie für längere Zeit mit der körperlichen Nähe von - ihnen bisher unbekannten - Artgenossen konfrontiert werden? Oder, so wie unlängst, als ich im Railjet von Linz nach Wien unterwegs war: Fachgebiete Moderne Technologien, Geografie und Englisch.

In jedem dieser hochmodernen Waggons hängen acht Bildschirme. Als ich zum ersten Mal hinsehe, erfahre ich, dass wir gerade mit 171 Stundenkilometern unterwegs sind. Aha. Es erscheint eine Landkarte: Die Strecke von Salzburg nach Wien, eine blaue Linie, auf der unser Zug irgendwo dahinrast, seine Position mit einem roten Pfeilchen gekennzeichnet.

Daneben steht plötzlich "Gölling an der Erlauf". Gut so. Immerhin weiß ich jetzt, dass es einen Ort dieses Namens gibt. Vielleicht verbinden andere Leute mehr damit. Kann ja sein, dass ein Fahrgast seinen Sitznachbarn anstößt und ausruft: "He, Gölling an der Erlauf - von dort kam meine erste Freundin!" In unserem Waggon jedenfalls nicht. Da sehe ich niemanden, der von dem kleinen roten Pfeil Notiz nimmt. Überall nur E-Mails, Filme im Laptop und Ohrstöpsel.

Die Anzeige berichtet von 185 Stundenkilometern, die zu 195 werden. Es wären auch Kinder hier, von denen könnte man doch erwarten, dass sie jubelnd verkünden: "Papa, Papa, wir fahren gerade hundertfünfundneunzig!!" Nichts. Tippen auf ihren Handys herum. SMS oder ein Spiel. Wir nähern uns St. Pölten. Der Bildschirm verkündet, dass unsere planmäßige Ankunft mit 14.03 Uhr angesetzt ist. Allerdings die "aktuelle" soll erst um 14.05 Uhr stattfinden. Unser Zug kriegt das aber in den Griff, denn wenig später leuchtet auf: Planmäßige Ankunftszeit in St. Pölten: 14.03 Uhr, aktuelle Ankunftszeit: 14.03 Uhr. Alles wieder im Lot.

Nach St. Pölten: neue Mitfahrende, dasselbe Bild: Handys, Laptops. Der Bildschirm überbietet sich von Sekunde zu Sekunde an Rekordmeldungen: 200 km/h, dann immer schneller, bis wir schließlich mit 230 auf den tiefer gelegten Geleisen dahinrasen. Mehr wird’s heute nicht.

Kurz darauf erreichen wir das Weichbild der Bundeshauptstadt. Die Anzeige liefert zweisprachig wertvolle Daten. Ihre Anschlüsse (Your Connections): Grüner Punkt = erreichbar (reachable), roter Punkt = gefährdet (at risk). Daneben die Frage "Haben Sie auch nichts vergessen?" Im Englischen knackiger mit "Left anything?", was Platz lässt für: "Baggage? Umbrella?"

In Wien steige ich fahrplanmäßig um halb drei aus dem Zug. Ich habe mein Geografiewissen bereichert, meine Englischkenntnisse ausgebaut und weiß, dass ein Railjet zwischen Linz und Wien 230 km/h erreichen kann. Nur eine Frage bleibt: Was wäre passiert, hätte niemand von der (dann doch nicht eingetretenen) Verspätung von zwei Minuten in St. Pölten gewusst? Aber vielleicht hat eh niemand hingesehen.

Hans-Paul Nosko ist Journalist und lebt in Wien.

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