Generation kurzsichtig

Die Hornhaut ist das hauchdünne «Fenster», das vorne das Auge abschliesst – und das man ungern berührt. Doch wenn Michael Wyss über die Hornhaut spricht oder eine fröhlich-farbige drei­dimensionale Darstellung von ihr auf den Computerbildschirm holt, hat man nicht mehr das Gefühl, die Hornhaut sei eine etwa einen halben Millimeter dünne, gebogene, empfindliche Scheibe. Sondern eine plastische, formbare Schicht, mit der man arbeiten, in die man Vertiefungen treiben oder der man Formveränderungen zumuten kann. Und zwar fast unbemerkt – über Nacht.

Michael Wyss ist Optometrist bei der Eyeness AG des Kontaktlinsenstudios Bärtschi am Hirschengraben in Bern, das im Linsengeschäft zu den Innovationstreibern in der Schweiz gehört. Bei ihm in der Praxis sitzt ein 13-jähriges Mädchen, dessen Kurzsichtigkeit sich rasant verschlimmert hat – was in diesem Alter ziemlich häufig geworden ist. Innert eines Jahres musste die Korrektur ihrer herkömmlichen Kontaktlinsen um fast zwei Dioptrien verstärkt werden. Die Augen des Mädchens waren stark in die Länge gewachsen, weshalb sich der Brennpunkt (siehe Grafik) vor der Netzhaut befindet, sodass im Hirn ein unscharfes Bild produziert wird, wenn die junge Frau in die Weite blickt.

Wilde Augenlandschaft

Normalerweise korrigiert man die Kurzsichtigkeit mit Brille oder Tageslinsen. Aber Michael Wyss hat etwas anderes im Sinn. Unvorstellbar genau – an mehreren Zehntausend Punkten auf der kleinen Augenoberfläche – vermisst er mit einem elektronischen Gerät die Hornhaut und lässt den Rechner eine spektakuläre Landkarte von ihr anfertigen. Man sieht jetzt Hügel, Ebenen, Senken. «Die Topografie jeder Hornhaut», sagt Wyss, «ist einmalig, wie der Fingerabdruck.»

Für die gebirgig wilde Augenlandschaft der 13-Jährigen lässt Wyss nun eine individuelle Speziallinse anfertigen, deren Auf­gabe es ist, haargenau an den Pro­blemzonen ihrer Hornhaut an­zusetzen. Während sich die Linse über Nacht auf dem Auge des Mädchens befindet, übt sie an definierten Stellen Druck aus und drängt die Hornhaut minim zurück – mit dem verblüffenden ­Effekt, dass die junge Frau am nächsten Tag scharf in die Weite sieht. Und zwar ohne Linse oder Brille.

Vorausgesetzt, sie schläft immer mit ihren Nachtlinsen, lässt sich die Korrektur jeden Tag reproduzieren. Nötig sind eine ­Angewöhnungsphase von einigen Wochen sowie eine Anpassungsinvestition von rund 1000 Franken.

Gebremstes Augenwachstum

Salopp ausgedrückt: Die sogenannten Ortho-K-Nachtlinsen bewirken am Auge das Gleiche wie eine Laserbehandlung – allerdings ohne operativen Eingriff. Stimmt die Korrektur plötzlich nicht mehr, kann sie rückgängig gemacht werden.

Was fast wichtiger ist: Der Einsatz dieser Nachtlinsen beeinflusst auch die körperliche Entwicklung. Wie Studien aus Neuseeland zeigen, verlangsamt sich bei Jugendlichen mit dieser Methode das Augenwachstum in kürzester Zeit. Die Zunahme der Kurzsichtigkeit kann so deutlich – laut Experten um bis zu 80 Prozent – abgebremst werden. Und das könnte weltweit für Hunderte Millionen junger Menschen die Lebensqualität erhöhen.

Für Michael Bärtschi, Verwaltungsratspräsident und Inhaber des Kontaktlinsenstudios sowie Doktor der Biomedizin in Augenforschung, sind orthokeratologische Nachtlinsen nur ein Aspekt der sich rasant wandelnden Welt der Sehhilfen. «Der technische Fortschritt, der derzeit abläuft, ist atemberaubend», sagt Bärtschi. Es sei unmöglich, abzuschätzen, welche neuen Sehhilfen in zwanzig Jahren auf dem Markt seien.

Zwang zu perfekter Sicht

Was man hingegen sagen kann: Das Auge zieht immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. «Seit Jahrzehnten beobachten wir, dass die visuellen Ansprüche der Menschen steigen», sagt Bärtschi. Das hat zwar auch mit Wohlstand zu tun: Wir können es uns leisten, unsere Sehkraft zu optimieren.

Aber es ist auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit: Ohne Korrektur selbst minimer Sehfehler sind wir verlorener denn je. Lange Arbeitstage vor dem Computerscreen, Alltag der meisten Menschen, stellen höchste Ansprüche an die Sehschärfe. Gemäss der regelmässig durchgeführten Publitest-Umfrage des Schweizerischen Optikerverbands (SOV) klagt fast die Hälfte der Befragten über Augenprobleme bei der Bildschirmarbeit – die sich unter Um­ständen auf den ganzen Körper ausdehnen, weil die Augen Körperspannung und Nervensystem beeinflussen.

Das Augenbusiness wird allerdings auch durch die demografische Alterung befeuert – weil die Sehkraft in die Nähe sich mit der Altersweitsichtigkeit natürlicherweise verschlechtert, unabhängig davon, ob man zuvor schon kurzsichtig war. In der Schweiz stieg der Anteil der Sehhilfenträger seit dreissig Jahren kontinuierlich auf laut SOV heute 71 Prozent der Bevölkerung zwischen 14 und 74 Jahren an. Und eine Abflachung der unaufhalt­samen Wachstumskurve ist nicht in Sicht.

Ganz im Gegenteil.

Epidemische Kurzsichtigkeit

Denn weltweit gesehen ist ein rabiater Vormarsch der Kurzsichtigkeit bei Jugendlichen im Gang – vor allem in Asien. Besonders alarmiert sind die chinesischen Behörden: Vor wenigen Jahrzehnten trugen 10 bis 20 Prozent der Chinesen eine Brille. Heute sind 90 Prozent der chinesischen Schulabgänger kurzsichtig, teilweise schwer.

Das Zhongshan Ophtalmic Center in der südchinesischen Millionenstadt Guangzhou ist eine der grössten und renommiertesten Augenkliniken weltweit, in der jährlich 30 000 Augenoperationen durchgeführt werden. Eine amerikanische Reporterin berichtete kürzlich, dass man sich dort während der Schulferien kaum mehr bewegen könne, weil unglaubliche Massen von Kindern zu Augentests anreisten. Auch in den USA und in Westeuropa hat die Myopie bei jungen Menschen in den letzten Jahrzehnten um 40 bis 50 Prozent ­zugenommen. Wohl auch in der Schweiz: Präzise Erhebungen zur Zunahme der Kurzsichtigkeit gibt es jedoch nicht.

Klare Ansagen macht hingegen Kovin Naidoo, CEO des Brien Holden Vision Institute in Sydney, des führenden Forschungsinstituts in der Frage der globalen Myopie: Jugendliche Kurzsichtigkeit müsse endlich als Epidemie begriffen werden – weltweit. «Sonst», hält der Wissenschaftler fest, «wird 2050 eine Milliarde Menschen mit dem Risiko leben zu erblinden.» Denn: Starkes Längenwachstum am Auge in der Jugend kann im Alter zu Netzhautablösung, extremer Sehschwäche oder Blindheit führen.

Problemzone Smartphone

Die dramatische Zunahme hat jüngst auch den Blick auf die Kurzsichtigkeit verändert. Jahrzehntelang fasste man Myopie als genetisches Schicksal auf, das einen zum Optikerkunden macht – oder eben nicht. Experte Naidoo hingegen führt Kurzsichtigkeit bei Jugendlichen zu 90 Prozent auf «Verhalten und kulturelle Faktoren» zurück.

Kurzsichtigkeit, sind sich Wissenschaftler in den letzten Jahren einig geworden, drohe vor ­allem dann, wenn sich Kinder kaum draussen bewegten. Der spektakuläre Anstieg der Myopieraten in China lässt sich als Folge von Verstädterung und hohem Bildungsdruck verstehen: Nach der Schule erledigen chinesische Kinder stundenlang Hausaufgaben, die Augen starr in Bücher oder auf Displays gerichtet.

Kaum noch jemand lässt den Blick schweifen: Die Indoor­orientierung ist auch bei uns eine Realität der digitalen Gegenwart. Genauso wie die Tatsache, dass der Dauernahblick auf Computer-, Tablet- oder Smartphone-Bildschirme die Augen gnadenlos herausfordert. Allerdings: Ein direkter Zusammenhang zur epi­demischen Kurzsichtigkeit ist bis jetzt nicht nachgewiesen.

Was man aber weiss: Kinder müssten sich laut dem australischen Forscher Ian Morgan drei Stunden täglich draussen bewegen, um gegen übermässiges Augenwachstum geschützt zu sein. Ob das Licht die entscheidende Rolle spielt oder wechselnde Blickdistanz, ist unklar.

Klar ist aber: Drei Stunden ­täglich an der frischen Luft sind die wenigsten jungen Menschen. Deshalb setzt man im Kampf gegen die Kurzsichtigkeit auf Technologie. Forscher Morgan experimentiert mit einem gläsernen Klassenzimmer zwecks Outdoorsimulation. Da erscheint der Masseneinsatz von Spezialnachtlinsen schon effizienter.

Die angesichts der globalen Sichtprobleme wachsenden ­Absatzmärkte beleben in der optische Branche ohnehin den Machbarkeitsglauben. Der Pharmariese Novartis arbeitet zusammen mit dem Technologiekonzern Google an einer smarten Kontaktlinse für Diabetiker. Sie misst in der Augenflüssigkeit den Blutzuckergehalt und sendet die Werte aufs Smartphone, damit die ­Insulinzufuhr optimal ge­taktet werden kann. Kontaktlinsenspezialist Michael Bärtschi kann sich vorstellen, dass Linsen vermehrt für den Transport pharmokologischer Substanzen in den Körper zum Einsatz ­kommen.

Spektakulär ist das Projekt des Schweizer Optikforschers Eric Tremblay von der ETH Lausanne. Er ist daran, eine Tele­skoplinse zu entwickeln. Per Blinzeln kann man mit ihr Objekte heranzoomen wie mit einem Fernglas. Das wäre ein ­Segen für Menschen mit extremer Sehschwäche. In einigen Jahrzehnten könnten das viele von uns sein.

juerg.steiner@bernerzeitung.ch (Berner Zeitung)

(Erstellt: 31.01.2016, 09:30 Uhr)

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