Gemeinsames Erinnern macht Kinder stark

Wenn man an die eigene Kindheit zurückdenkt, blitzen hier und da Fetzen von Erinnerungen auf: wie dem kleinen Lieblingsauto das Rad abfiel, das erste Mal Fahrradfahren ohne Stützräder, der Duft von Apfelkuchen bei der Großmutter. Manchmal sind die Bilder vage und blass, manchmal auch stechend scharf. Je weiter in die Vergangenheit es dabei zurückgeht, desto weniger konkrete Erinnerungen werden es.

Denn je jünger ein Kind ist, desto weniger behält es ganze Episoden von Ereignissen im Kopf, wie der niederländische Psychologe Douwe Draaisma in seinem "Buch des Vergessens" beschreibt. Bevor ein Kind sein Erleben in Sprache fassen kann, so sagt er, gibt es nur sehr wenige konkrete Erinnerungen.

Das Gehirn ist noch zu sehr damit beschäftigt, die Ressourcen bereitzustellen, die es braucht, um Erinnerungen überhaupt verlässlich festhalten zu können – so haben die Gehirnregionen, die mit dem Gedächtnis in Verbindung stehen, im Säuglingsalter noch einiges an Entwicklung vor sich.

Das autobiografische Gedächtnis funktioniert auch später, wenn ein Kind sich bereits sicher seine Muttersprache spricht, etwas anders als bei einem Erwachsenen. Kinder erinnern sich weniger an konkrete Situationen, sondern eher an wiederkehrende Episoden oder Routinen in ihrem Alltag: im Kindergarten Mittag essen, beim besten Freund im Garten Ball spielen, am Wochenende mit den Eltern spazieren gehen.

Intensive Momente bleiben ein Leben lang

Doch es gibt auch Ausnahmen: Momente, die als sehr emotional erlebt wurden und Erfahrungen, die man zum allerersten Mal macht, bleiben Draaisma zufolge wie auch beim Erwachsenen meist ein Leben lang intensiv und detailreich in Erinnerung. Das hat einen einfachen Grund: Eine wichtige Aufgabe des Gedächtnisses ist es, mögliche Gefahren zu vermeiden.

Deshalb sind frühe Erinnerungen oft auch eher unerfreulich. Man erinnert sich an die heiße Herdplatte, den Sturz vom Baum, den schlimmen Bienenstich – aber zum Beispiel nicht an alle Geburtstage, trotz der so lange sehnlichst erwarteten Geschenke. Diese Vorherrschaft der schlechten Erinnerungen signalisiert: Merk dir das gut, davon lässt du zukünftig lieber die Finger.

Doch noch eine weitere Eigenart des Gedächtnisses ist für Kindheitserinnerungen von besonderer Bedeutung. Das Gehirn, so Draaisma, sei zwar sehr gut darin, Wissen zu speichern und abzurufen – woher das Wissen aber kommt, ist dabei eher zweitrangig. Forscher beschäftigen sich aus diesem Grund auch damit, welchen Anteil die Eltern an den Erinnerungen ihrer Kinder haben.

Denn wenn Eltern gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen mit ihren Kinder rekapitulieren und besprechen, verändern sich auch die Erinnerungen selbst. Sie sind keine unveränderlichen Dateien auf einer Festplatte. Mit jedem Abruf verändert sich die Erinnerung – und wie sie sich anfühlt, sagen Psychologen.

Gemeinsames Erinnern fördert die Entwicklung

Dass Eltern schon sehr früh mit ihren Kindern gemeinsam Erlebtes rekapitulieren, ist empirisch gesichert. Studien in den USA, Neuseeland, Südamerika und asiatischen Ländern zeigten: Bereits im Vorschulalter sprechen Eltern regelmäßig mit ihren Kindern über Vergangenes. Andere Untersuchungen ergaben, dass es für die Kinder durchaus auch einen Unterschied macht, wie ausführlich die Eltern dies tun.

So kann das ausführliche Schwelgen in Erinnerungen die Entwicklung des Kindes fördern, und zwar in mehrfacher Hinsicht. So erinnern sie sich an mehr Ereignisse und das detailreicher als andere Kinder. Außerdem sind sie im Vergleich mit anderen besser darin, konsistente Geschichten zu erzählen. Und auch für die Regulierung von Gefühlen scheint es hilfreich zu sein, die Vergangenheit regelmäßig zusammen Revue passieren zu lassen.

Kinder, deren Eltern das regelmäßig tun, sind emotional sicherer an ihre Eltern gebunden und darüber hinaus emotional ausgeglichener und zufriedener. Der Grund dafür kann nach Ansicht der Forscher sein, dass das gemeinsame Wiederentdecken der Vergangenheit den Kindern hilft, ihre Erfahrungen zu strukturieren und vor allem unangenehme Gefühle, die sie weiterhin beschäftigen, im Nachhinein zu regulieren.

So kann man etwa einer unangenehmen Situation, in der man sich hilflos fühlte, eine andere gegenüberstellen, in der man sich aus einer ähnlichen Lage gut herausmanövriert hat. Die Kinder lernen dadurch offenbar, Vergangenes zu bewältigen oder so zu steuern, dass es ihnen für die Bewältigung der Gegenwart und der Zukunft hilft.

Mütter besprechen mehr als Väter

Die US-Psychologen Widaad Zaman von der University of Central Florida und Robyn Fivush von der Emory University haben sich den Prozess des gemeinsames Rekapitulierens kürzlich noch einmal genauer angesehen und ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift "Sex Roles" veröffentlicht. Sie besuchten 47 Kinder zusammen mit ihren Eltern bei sich zu Hause und baten sie, mit ihren Kindern vergangene Ereignisse zu besprechen.

Dabei sollten die Eltern einzeln jeweils vier verschiedene Situation in der Vergangenheit mit ihrem Kind besprechen: eine schöne Erinnerung, eine traurige Erinnerung, eine, in der ein Konflikt zwischen dem Kind und einem seiner Freunde aufgetreten war, sowie eine, bei der das Kind sich mit einem Elternteil gestritten hatte.

Die Wissenschaftler werteten die Audioaufzeichungen der Gespräche anschließend danach aus, wie ausführlich die Gespräche verliefen, wie offen die Eltern das Kind nach seiner Sicht der Dinge befragten und in welchem Ausmaß sich alle Beteiligten am Geschehen beteiligten. Dazu zählte auch, wie sehr sich alle bemühten, Missverständnisse zu klären und negative Gefühle aus dem Weg zu räumen.

Das Ergebnis: Mütter besprachen die Erinnerungen im Durchschnitt ausführlicher als Väter und kontrastierten besonders negative Erinnerungen eher mit positiven. Das galt für alle vier Situationen gleichermaßen. Besonders bei negativen Erfahrungen beteiligten sich aber sowohl die Mütter als auch die Kinder selbst mehr an der Diskussion über das, was geschehen war.

Klare Geschlechtsunterschiede sichtbar

Die Mütter stellten vor allem mehr offene Fragen, etwa "Warum warst du traurig, weißt du das noch?", als Fragen, die als Antwort nur Ja oder Nein zuließen, etwa "Du warst traurig, oder?" Das Studienergebnis demonstriere, so die Wissenschaftler, dass es auch beim gemeinsamen Erinnern klare Unterschiede zwischen Müttern und Vätern gebe, und vermittle den Kindern so gleichzeitig ein ganz bestimmtes Rollenbild der Geschlechter.

"Das Ergebnis ist faszinierend und ein wichtiger Schritt zum Verständnis dafür, wie Eltern ihren Kindern über solche Erzählungen Geschlechterrollen vermitteln, die diese Jungen und Mädchen dann wiederum in ihr eigenes Leben übertragen." Ob das nun für die einzelne Familie tatsächlich immer und genau so gilt – das lässt sich von dieser Studie ausgehend nicht klar sagen.

Dass es aber wichtig ist, sich gemeinsam mit den Kindern regelmäßig über zusammen Erlebtes auszutauschen, das untermauert auch diese Studie. Dass Väter und Mütter dabei womöglich unterschiedliche Strategien haben, ist für das Kind vielleicht ohnehin erst einmal zweitrangig.

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