Geldwerte Makel

Von Christian Gattringer

Die Erde dreht sich um die Sonne – so viel ist seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Der Weisheit letzter Schluss war diese kopernikanische Erkenntnis indes nicht, ging sie doch davon aus, dass die Planeten das Zentralgestirn auf perfekt kreisförmigen Bahnen umschwirrten. Diese Annahme stand im Widerspruch zu realen astronomischen Beobachtungen. Erst 70 Jahre später konnte der deutsche Forscher Johannes Kepler das Rätsel lösen: Die Planeten umlaufen die Sonne nicht auf perfekt kreisrunden Bahnen, sie eiern auf elliptischen Kurven durchs All. Eine Erklärung war gefunden, doch das Idealbild hatte man beerdigen müssen.

Eine ähnliche Entwicklung hat die Finanzmarkttheorie seit den 1970er Jahren durchlaufen. Bis anhin waren Ökonomen bei ihren Überlegungen stets vom Idealbild des wirtschaftlich denkenden Marktakteurs ausgegangen, des Homo oeconomicus. Dieser, so die Theorie, ist ein kühler Rechner, der unter Einbezug sämtlicher verfügbarer Informationen kalkuliert und auf rein rationaler Basis entscheidet. Doch viele Entwicklungen, die in der Praxis beobachtet werden, laufen dem Prinzip des Homo oeconomicus zuwider: Dies äussert sich im «eigenartigen» Kursverlauf von Aktien, in real existierenden Portfolios oder in der geringen Treffsicherheit von Analytikerprognosen.

Mit der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass finanzielle Entscheidungen nicht nur nach rationalen Kriterien getroffen werden. Psychologische Faktoren und Emotionen spielen eine so grosse Rolle, dass diese Aktienmärkte und Finanzwelt wesentlich beeinflussen. Die Untersuchung dieser Faktoren und ihrer Auswirkungen bildet das weite Feld der «Behavioral Finance», der verhaltensorientierten Ökonomik. In den vergangenen 20 Jahren hat diese Disziplin stark an Bedeutung gewonnen und zahlreiche Träger hoher akademischer Auszeichnungen hervorgebracht.

Wie aber beeinflusst der menschliche Makel die Anlageentscheide eines Privatanlegers? Muss sich ein solcher quasi vor sich selbst schützen? Eines der am weitesten verbreiteten Denkschemen dazu stammt vom amerikanischen Kapitalmarkttheoretiker Hersh Shefrin. Heute findet es unter anderem in der Ausbildung von Finanzberatern und Analytikern weltweite Anwendung.

Ein wesentliches Element dieses Rahmenwerks ist die Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen. In der Theorie ist dies ein rationaler Prozess. Anleger sammeln und verarbeiten Informationen und wählen auf dieser Basis die Option, die ihnen unterm Strich den meisten Gewinn verspricht. In der Praxis aber herrscht die heuristische Entscheidungsfindung vor: Das heisst, Anleger treffen ihre Wahl anhand von persönlichen Erfahrungen und nach dem Konzept von Versuch und Irrtum. Statt sich umfassend zu informieren, wird der am leichtesten verfügbaren Information, etwa Medienberichten oder Empfehlungen von Bekannten, Vorrang eingeräumt. Oft kommen darüber hinaus stereotype Ansichten zum Tragen, wenn etwa Unternehmen, die sich «Nachhaltigkeit» auf die Fahnen schreiben, automatisch als gutes Investment betrachtet werden.

Ein weiterer Faktor, der bei vielen Anlegern eine grosse Rolle spielt, ist übermässiges Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, zum Beispiel bei der Auswahl gewinnträchtiger Aktien oder bei der Prognose von Renditen. Letzteres ist in Experimenten anschaulich belegt worden (vgl. Grafik). Zürcher Ökonomen baten Probanden – Profis wie Laien –, eine Bandbreite anzugeben, in die 90% der letzten 34 Jahresrenditen diverser Anlageklassen fallen sollen. Es zeigte sich, dass die Versuchskaninchen die Intervalle praktisch immer zu eng ansetzten. In der Praxis bedeutet dies, dass Anleger von Marktbewegungen oft überrascht werden – positiv wie negativ.

In vielen Fällen verbinden sich heuristische Entscheidungsfindung und Selbstüberschätzung. Man hat nach oberflächlicher Recherche eine positive Meinung von einem potenziellen Investment und misst dieser parallel zu hohes Gewicht bei – unter Ausblendung der Risiken. So werden viele Anlageentscheide zu reinen Wetten.

Ebenfalls fatal kann eine weitere menschliche Eigenschaft bei der Geldanlage sein: das Festhalten an Ankerpunkten. Bei Wertpapieren ist ein solcher Anker meist der Einstandspreis. Dabei ist dieser nur ein Datenpunkt unter vielen. Gerade wenn eine Aktie abtaucht, kann die Orientierung am Kaufpreis teuer werden: Der Kurs fällt und fällt, doch der Anleger verkauft nicht. Er will – koste es, was es wolle – nicht mit einem Verlust aussteigen und wartet deshalb ab. Doch wie unzählige Beispiele zeigen, kann ein Abwärtstrend jahrelang anhalten. Die Nokia-Aktie etwa hat seit Ende 2007 fast 95% ihres Werts eingebüsst – ohne nennenswerte Erholungen.

Dabei kann der Einstandspreis noch ein vergleichsweise rationaler Orientierungswert sein. Welch absurde Ankerpunkte Menschen unbewusst beeinflussen können, zeigt ein Experiment, das der amerikanische Psychologe Dan Ariely in seinem Buch «Predictably Irrational» beschreibt. 55 Studenten der Eliteuniversität MIT wurden verschiedene Objekte, darunter eine Schachtel Pralinen und eine drahtlose Computertastatur, präsentiert. Dann wurden die Probanden ersucht, die letzten beiden Stellen ihrer Sozialversicherungsnummer niederzuschreiben, als Zahl und als Dollarbetrag. Im Anschluss daran hatte jeder Anwesende ein schriftliches Gebot für die einzelnen Objekte abzugeben. Diejenigen mit dem höchsten Gebot erhielten das Objekt der Wahl und mussten den angegebenen Preis auch tatsächlich bezahlen. Das Faszinierende war: Je höher die Zahl am Ende der Sozialversicherungsnummer, desto höher war auch das Gebot, das der betreffende Student abgegeben hatte. So bot die Gruppe mit Zahlen zwischen 0 und 19 im Schnitt 16 $ für die Tastatur, jene mit Zahlen zwischen 80 und 99 dagegen mit 56 $ mehr als das Dreifache.

Das Festhalten an irrationalen Ankerpunkten illustriert, wie wichtig persönliche Empfindungen für den Investor sind. Der Wunsch nach der Vermeidung von Verlusten ist nach wissenschaftlicher Deutung nichts anderes als die Scheu davor, sein eigenes Verhalten bereuen zu müssen. Der Verkauf unter dem Einstandspreis ist letztlich ein Eingeständnis des Versagens – und niemand fühlt sich gerne als Verlierer.

Das Gros der Anleger meidet deshalb Unwägbarkeiten. In risikobehaftete Papiere wie Aktien wird vornehmlich investiert, wenn mit gefühlter Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass die Kurse steigen – also meist, nachdem man am Markt eine längere Phase positiver Kursentwicklungen beobachtet hat. Privatanleger verkaufen deshalb nicht nur zu spät, sie versäumen oft auch Aufwärtstrends wie etwa ab März 2009 oder gegen Ende vergangenen Jahres.

Der menschliche Makel hat Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Er führt zu Fehlbewertungen und Fehlallokation von Kapital. Nicht wenige Finanzprofis versuchen, dies auszunützen, manche mehr, manche weniger erfolgreich. Hersh Shefrin selbst warnt davor, mit den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik den grossen Reibach machen zu wollen. Für den Kleinanleger empfiehlt sich vielmehr der umgekehrte Weg: sich selbst bei Finanzentscheiden genau auf die Finger zu schauen. So lassen sich die gröbsten Fehler vielleicht vermeiden.

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