Geist ist mehr als Gehirn

Viele Neurowissenschaftler verstehen die Hirnforschung als neue Leitwissenschaft, die den Menschen besser als jede andere Disziplin erfassen und uns zu grundlegend neuer Selbsterkenntnis verhelfen könne. Gegen diesen hohen Anspruch macht der an der Bonner Universität lehrende junge Philosoph Markus Gabriel in der polemischen Streitschrift «Ich ist nicht Gehirn» mobil. Sie überzeugt durch klar vorgetragene Argumente und anschauliche Beispiele.

Markus Gabriel kennt die grossen Autoren der antiken Weisheitslehren ebenso gut wie die Meisterdenker der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel. Dass manche kluge Einsichten in die Eigenart des Menschen schon vor langen Jahren formuliert wurden, bedeutet für ihn noch lange nicht, dass sie überholt oder veraltet sind. So spricht er von der «bewusstseinserweiternden Wirkung der Geistesgeschichte», die über Jahrhunderte hinweg eine zunehmend subtilere Sprache zur Vertiefung der «Feinkörnigkeit unseres Bewusstseins» entwickelt habe. Die in englischer Sprache geführten Debatten um eine «Philosophy of Mind» sind Gabriel bestens bekannt. Und dank souveräner Quellenkenntnis überblickt er auch die seit gut 300?Jahren an deutschen Universitäten geführten Kontroversen um Begriffe wie Geist, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft, Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit.

Gabriel geht es darum, die Freiheit des Menschen als eines individuellen Ichs gegen alle zeitgenössischen Theorien zu verteidigen, die dem Menschen einen freien Willen absprechen. Für ihn schlägt die naturwissenschaftliche Rationalität in pseudowissenschaftliche Mythologie um. Stärker als andere Philosophen weiss Gabriel, wie sehr die Erkenntnissuche grosser Naturforscher der Moderne auch von religiösen Motiven bestimmt war. Am Beispiel von Selbstdeutungen zahlreicher Neurowissenschaftler kann Gabriel überzeugend zeigen, wie deren Erkenntnisansprüche nur auf empirisch haltlose Behauptungen hinauslaufen. «Geist» ist eben sehr viel mehr und anderes als nur «mind» und gewiss nicht mit «Gehirn» oder «brain» identisch. Bewusstseinsprozesse haben neuronale Grundlagen, aber der «Feuersturm» der Neuronen determiniert weder den Gehalt unseres Bewusstseins noch gar des aufs Bewusstsein reflektierenden Selbstbewusstseins.

«Neurozentriker» sind Ideologen

Leider spielt Gabriel die Überlegenheit seiner philosophischen Bildung über die erkenntnistheoretisch nur naiven Dogmatismen prominenter Naturwissenschaftler allzu deutlich aus. Wer mit Kants «Kritik der reinen Vernunft», Fichtes erster «Wissenschaftslehre» und Hegels «Phänomenologie des Geistes» argumentieren kann, findet in einem alles darwinistisch erklären wollenden Atheisten wie Richard Dawkins keinen satisfaktionsfähigen Gegner. Genau darin liegt die Schwäche von Gabriels Buch: Mit starken, überzeugenden Argumenten erklärt er die vielen neuen «Neurozentriker» zu Ideologen, die, ohne es zu merken, nur die Interessen einer an der Manipulation des Individuums orientierten Wirtschaft und eines autoritären Überwachungsstaates bedienten.

Aber kann eine zeitgemässe Philosophie des Geistes wirklich gar nichts von den Neurowissenschaften lernen? Und haben wirklich nur die «Neurozentriker» den Geist aus den Human- oder Kulturwissenschaften vertrieben? Waren daran nicht auch Geisteswissenschaftler beteiligt, die in positivistisch verblödeter Philologie oder denkfernem Zählen bekundeten, dass ihnen zur Gegenwarts­relevanz ihrer klassischen Texte und grossen Denktraditionen nichts einfällt?

Mit «Warum es die Welt nicht gibt» hat Markus Gabriel 2013 einen erfreulich provozierenden Bestseller zu altehrwürdigen Problemen der Ontologie und Kosmologie vorgelegt. Im neuen Buch verweist der Autor mehrfach auf das damals Entfaltete. Doch betont er nun stärker ein Eigenrecht des Individuums, das er gegen alle aktuellen Tendenzen als ein zur Freiheit begabtes, naturwissenschaftlich niemals völlig transparent zu machendes und moralisch verantwortliches Handlungssubjekt verteidigen will. Für Gabriel geht kein Mensch im Vorhandenen auf, und er insistiert darauf, dass es aus vielen guten Gründen eine Vielfalt ganz unterschiedlicher Diskurs- und Symbolwelten geben muss, in denen wir Menschen uns über uns selbst zu verständigen versuchen.

Religion, bildende Kunst, Dichtung seien als Medien der sinnhaften Selbstdeutung des Menschen prinzipiell gleichberechtigt mit anderen Reflexionsmedien, etwa der Philosophie. Man kann auch aus lyrischen Texten lernen, dass wir nicht nur bewusst handeln, sondern immer schon ein Bewusstsein von Bewusstsein, eben Selbstbewusstsein haben. Religiöse Symbolwelten ermöglichen es, das eigene Bewusstsein am Massstab des Bewusstseins anderer zu kultivieren. So sehr Gabriel die Freiheit des Individuums betont, so stark akzentuiert er die von Fichte, Hegel und Schleier­macher in harter Begriffsarbeit gewonnene Einsicht, dass sich Freiheit in Anerkennungsverhältnissen verwirklicht.

Gegen die fantastischen Visionen der neuen Trans- und Posthumanisten, die behaupten, dass wir als Cyborgs über unsere biologische Natur hinauswachsen werden, und deshalb vom Ende des sterblichen Menschen reden, hält Gabriel an einem Begriff des Menschen als eines «geistigen Lebewesens» fest, das seine individuelle Sterblichkeit ebenso gelassen hinnehmen muss wie die Endlichkeit der menschlichen Gattung.

Kein «neuer Mensch» der Zukunft

Auch wenn er im freien Ich den «kleinen Gott auf Erden» sieht, betont er die Grenzen unseres Wissenkönnens. Den Utopien vom ganz anderen Nachmenschen der Zukunft, die nur die totalitären Beschwörungen des «neuen Menschen» beerben, erteilt er deshalb nüchtern gelassen die Absage, dass wir nur dieses Leben haben und hier und jetzt genug zu tun ist. «Noch ist der Mensch dem Menschen ein Wolf.» Diesen Zustand zu überwinden, bleibe die entscheidende Aufgabe einer Philosophie des Geistes, die statt der leeren Versprechungen der Transhumanisten ethische Orientierung bieten können will – für freie Menschen. (DerBund.ch/Newsnet)

(Erstellt: 05.02.2016, 16:47 Uhr)

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