Geheimnis psychischer Stärke: Die Unverwundbaren

Lisa kletterte auf dem Gerüst, rutschte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den harten Boden des Spielplatzes. Ihre Mutter stand am Rande und starrte apathisch, andere Mütter eilten herbei und trösteten Lisa. Trotz ihrer depressiven Mutter wurde aus Lisa eine gute Schülerin, sie machte ihr Abitur, war bei Mitschülerinnen beliebt und begann mit 19 ein Medizinstudium.

Resilienz nennen Psychologen die Widerstandskraft der Seele, die Menschen Traumata scheinbar unversehrt überstehen lässt. Selbst ein schlechter Start ins Leben - etwa eine Kindheit im Heim oder mit psychisch kranken Eltern - kann zu Karriere und Erfolg führen. Das ist die Erkenntnis der Resilienzforschung. Die Wissenschaftler der sogenannten Mannheimer Risikokinderstudie beispielweise staunten: Ob Armut, zerrüttete Familienverhältnisse, Alkoholismus des Vaters, Wochenbettdepression der Mutter, Vernachlässigung oder Gewalt - trotz teils höchst widriger Umstände entwickelten sich längst nicht alle Kinder der Studie schlecht. Im Gegenteil.

Hans-Olaf Henkel ist heute ein Mann mit aristokratischer Aura. Dass er nach dem Tod seines Vaters als Halbwaise aufwuchs und über Monate in Kinderheimen lebte statt wohlbehütet in einem Diplomatenhaushalt gefördert zu werden, verblüfft. Auch Gerhard Schröder wuchs als Halbwaise auf und zählte zu den Ärmsten der Armen, arbeitete in einer Eisenwarenhandlung, büffelte abends für die Mittlere Reife, machte Abitur, studierte - und avancierte schließlich im Brioni-Anzug zum Bundes- und Medienkanzler.

Wie gelingt es diesen Menschen unter diesen Umständen, solch eine Stärke aufzubringen?

Selbstwirksamkeit und Lebensplan

Wissenschaftler haben unter anderem beobachten können, dass resiliente Kinder im Säuglingsalter anpassungsfähiger, kontaktfreudiger, emotional ausgeglichener und fröhlicher waren als andere Kinder. Im höheren Alter wirkten sie proaktiver, handlungsorientierter und verantwortungsvoller. Sie hatten den Willen, ihr Leben zu gestalten und glaubten daran, dass dies möglich war.

Psychologen sind der Auffassung, dass seelisch robuste Menschen eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung haben. Das heißt, sie glauben an die Wirksamkeit ihrer Handlungen und schreiben Erfolge ihrem Können - Misserfolge eher dem Zufall zu. Zudem sind sie besser vor Krisen geschützt, weil ihr Selbstwert nicht unbedingt an Erfolge gekoppelt ist. Sie setzen sich realistischere Ziele und packen bei Chancen eher zu. Schwierigkeiten sehen sie als Herausforderungen, verlassen bei Krisen schneller die Opferrolle und bleiben auch in harten Zeiten optimistisch. Sie fragen aber auch früher nach Hilfe. Denn Resilienz bedeutet keinesfalls, unverletzlich oder niemals verzweifelt zu sein.

Die US-amerikanischen Psychologinnen Emmy Werner und Ruth Smith untersuchten bereits in den siebziger und achtziger Jahren das Resilienz-Phänomen: Sie begleiteten den Geburtsjahrgang von 1955 der hawaiischen Insel Kauai vier Jahrzehnte lang, 698 Kinder, darunter manche, die bei Geburt mehreren Belastungen ausgesetzt waren: chronische Armut, geringe Bildung, psychische Krankheit eines Elternteils.

Stabile Bezugsperson

Ein Teil dieser sogenannten Risikokinder wurde kriminell und nahm Drogen. Ein anderer Teil aber reifte zu leistungsfähigen Erwachsenen heran. Werner und Smith stießen auf bestimmte Merkmale: gutes Aussehen, ein positives Temperament und Intelligenz. Diese Schutzfaktoren lösten positive Reaktionen innerhalb der Umwelt der Kinder aus. Die Mannheimer Studie bestätigte diesen Puffereffekt: Kinder, die häufig lächelten, frühe Sprachfähigkeiten und eine gute Lesefähigkeit ausbildeten, erlebten oft Anerkennung: Erwachsene, die sich für die interessierten, Lehrer und Erzieher, die sie lobten, Freunde, die sie mochten und unterstützten.

Indem sie ihre Probleme bewältigten, steigerte sich auch ihre Selbstachtung und ihre Selbstwirksamkeit. Oft reifte schon früh ein Lebensplan. Dieses Gefühl von Sinnhaftigkeit, auch daran ist Resilienz gebunden. Der Soziologe Antonovsky spricht von einem Kohärenzgefühl. Doch alle Eigenschaften des Kindes, die einen schützenden Effekt hatten, blieben wirkungslos, wenn nicht etwas in der Umwelt hinzukam.

Werner und Smith stießen bei den resilienten Kindern auf eine frappierende Gemeinsamkeit: Alle hatten eine stabile Beziehung zu einer Bezugsperson, einem Mentor, Lehrer oder Freund. Es musste nicht die Mutter sein, aber ein Mensch, der ihre Entwicklung mit Anteilnahme begleitete. Bei Lisa, deren kranke Mutter nicht sensibel auf sie eingehen konnte, war es die Musiklehrerin, die ihre Begabung entdeckte und ihr viel Aufmerksamkeit widmete. Sie zeigte ihr, wie man die eigenen Talente nutzt.

Wie können wir unsere Seele aktiv vor Verlust oder Traumata schützen? Nach Resilienzforscher George Bonnano ist ein Netzwerk an Freunden hilfreich. Ihm zufolge überstehen Menschen mit einem stabilen Freundeskreis selbst dramatische Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September besser. Eine Studie norwegischer Wissenschaftler zeigte, dass Männer, die kulturelle Veranstaltungen besuchten, psychisch robuster sind.

Andere Experten plädieren für eine erlernbare Resilienz: Überbehütung und mangelnde Werte seien ein Grund für Depressivität und Verzagtheit. Vielmehr solle man Menschen bewusst machen, welche Probleme sie in ihrem Leben bereits bewältigt haben und diese Ressourcen dann gezielt für die Bewältigung anderer Krisen nutzen.

Auch die Integration in Vereine wird als Schutzfaktor diskutiert. "Dabei geht es ja nicht nur darum, in der Gruppe zu sein und sich nicht alleine zu fühlen", sagt Doris Bender, "sondern auch darum, Personen zu finden, an denen man sich in Lebensführung orientieren kann." Manch Resilienter habe sogar im Tagebuchschreiben einen Anker gefunden. Das sei mit dem Schutzfaktor der sozialen Unterstützung vergleichbar: Wie in einer Therapie schreibt man sich seine Probleme von der Seele.

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