Freitod ist eine Verzweiflungstat, aber auch eine Mordmethode

Germanwings-Absturz - Freitod ist eine Verzweiflungstat, aber auch eine Mordmethode. In der Psychologie werden sie „erweiterte Suizide" genannt: Der Betreffende tötet nicht nur sich selbst, sondern nimmt Ehepartner, eigene Kinder und Unbeteiligte mit in den Tod. Der Kopilot des Germanwings-Fluges 4U9525 hat sich nach letzten Erkenntnissen genau dieser Methode bedient, bei der weniger Verzweiflung als Wut und Rachsucht zum Ausdruck kommen, die bei jeder Selbsttötung eine wichtige Rolle spielen.

Als ich meine Psychologie-Diplomarbeit über das Thema „Suizidale Handlungen von Kindern und Jugendlichen" schrieb, war der Massenselbstmord der Sektenanhänger von Jonestown (1978) noch in aller Munde. Suizide haben im Laufe der Geschichte vielen Zielen gedient:

Von den Attentaten, rituellen Selbstmorden wie Seppuku, hierzulande als Harakiri bekannt, erzwungenen Selbstmorden wie die Selbstverbrennungen indischer Witwen, den gelenkten Abstürzen japanischer Piloten im Zweiten Weltkrieg („Kamikaze"), den als „Heiliger Krieg" bekannten Massenmorden an Andersgläubigen, den Bilanzselbstmorden, bei denen Menschen sich rational für die Selbsttötung entscheiden, um schweren Krankheiten zu entgehen, von appellativen Freitoden, die als politischer Widerstand begriffen werden wie die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach (1969) als Akt des Widerstandes gegen die Sowjetische Invasion der Tschechoslowakei, oder um durch den Freitod ein ethisches Gut in Erinnerung zu rufen: die Entscheidungsfreiheit des Menschen trotz Niederlage und drohender Versklavung zu bewahren.

Der Freitod kann zum Symbol des Widerstandes werden und als symbolische Rettung des bedrohten und nur noch mit dem eigenen Tod zu verteidigenden Lebens gelten. Der Massenselbstmord von Masada aus dem Jahr 73 n.d.Z., als sich die revoltierenden Makabäer gegen die Römer verteidigten und schließlich gemeinsam in den Tod gingen, wird bis zum heutigen Tag als heldenhafter moralischer Sieg der jüdischen Rebellen über die Römische Übermacht betrachtet.

Die Freiheit des Menschen im Freitod die eigene Menschlichkeit zu verteidigen, ist ein machtvolles Instrument

Auch die Selbstmorde tausender deutscher Juden, die ihrer Deportation durch Selbsttötung zu entgehen versuchten, war ein solcher Freitod als Symbol des Unrechts und der beschädigten Menschlichkeit. Die Freitode indischer Kleinbauern, die von Saatgutkonzernen und Patentanwälten zum Erwerb der jahrhundertelang selbst kultivierten Pflanzensamen gezwungen werden, gehören ebenfalls dieser Kategorie an. Die Freiheit des Menschen im Freitod die eigene Menschlichkeit zu verteidigen, ist ein machtvolles Instrument, ein politisches Signal zu setzen und eine verlorene Schlacht doch noch zu gewinnen.

Für den Airbus-Kopiloten Andreas M.L. des Germanwings-Flugs 4U9525, der am 24. März 2015 mutmaßlich die Maschine zum Absturz brachte und 150 Menschen mit sich in den Tod riss, trifft dies nicht zu. Seine Selbsttötung, wenn sie bestätigt wird (alle Indizien sprechen dafür) weisen auf eine andere Form der Selbsttötung hin: die Selbsttötung als Höhepunkt eines seelischen Doppellebens.

Suizidale Entwicklung haben bei diesen Menschen eine lange Vorgeschichte. Nicht immer sind psychische Krankheiten, aktuelle Kränkungen oder verborgene politische oder religiöse Überzeugungen der Auslöser. Gerade Menschen mit narzisstischen und Borderline-Störungen gelingt es oft jahre- und jahrzehntelang durch ihre Leistungsfähigkeit und ihren Erfolgswillen von ihrem seelischen Innenleben abzulenken.

Psychologische Test- und Explorations-Verfahren können aufdecken, ob sich hinter der Fassade des zurückhaltenden und erfolgreichen Bewerbers noch andere Motive verbergen. Der Haken dabei: Diese Methoden müssen erst einmal zum Einsatz gebracht werden. Die Verantwortlichen von Lufthansa und Germanwings bestätigen, dass nach der Einstellung eines Bewerbers die Flugtauglichkeit ausschließlich hinsichtlich medizinischer Aspekte überprüft wird. Psychologische Testverfahren und Explorationen spielen keine Rolle mehr.

Arbeitgeber sind nicht nur zur Zahlung des Gehalts- und der Altersversorgung für ihre Angestellten verpflichtet, sondern haben auch eine Fürsorgepflicht

Eine Unterlassung, die ein Skandal ist. Nicht nur hinsichtlich des Monitoring der Persönlichkeitsentwicklung und des sozialen Umfeldes, sondern auch was die Frage anbelangt, wie der noch unerfahrene Pilot eigentlich den beruflichen Stress verarbeitet. Dass Arbeitgeber nicht nur zur Zahlung des Gehalts- und der Altersversorgung für ihre Angestellten verpflichtet sind, sondern auch eine Fürsorgepflicht haben, die über materielle Leistungen hinausgeht, ist nicht nur bei Großunternehmen vergessen worden.

Hier handelt es sich um eine, auch in anderen Bereichen der Gesellschaft und der Politik vergessene, im wahrsten Sinn „wegrationalisierte" Haltung, an deren Stelle ein Tunnelblick getreten ist. Wer noch nicht einmal in der unpersönlichen Form der Psychologischen Untersuchung die emotionalen und seelischen Aspekte eines Arbeitnehmers anzuerkennen bereit ist, erweist sich als Meister des Weg Blickens und Vermeidens.

Offenbar können Emotionen nur noch als Empörung ausgelebt werden, die nach Katastrophen wie dieser wie eine Welle durch die Gesellschaft und die sozialen Netzwerke rollt, jedoch bald schon wieder abgeebbt sein wird, um der gewohnten Gleichgültigkeit, ja Empathie-Störung zu weichen. Einblicke in das wirkliche Leben wirklicher anderer Menschen sind unerwünscht. Was zählt sind gelungene Inszenierungen.

Beinahe so wie der Anwohner, der seinen Nachbarn immer wieder beim Joggen trifft und doch nie das Wort an ihn richtet. Und der von seinen Nachbarn nichts weiß - und nichts wissen will. Viele Kommentatoren beteuern bereits - noch bevor alle Fakten auf dem Tisch liegen - den Faktor „menschliches Versagen" eben nicht vermeiden zu können. Menschen seien nun mal keine unfehlbaren, gut funktionierenden Computer. Auch die Verantwortlichen der Luftfahrtgesellschaften appellieren um das Verständnis der Öffentlichkeit.

Menschliches Versagen ist eine Möglichkeit, der man nur begegnen kann, indem man Menschen in die Augen blickt

Doch sie haben es nicht verdient; Sie haben ja noch nicht einmal die Basisvoraussetzungen dafür geschaffen, menschliches Versagen als Kriterium der Betreuung und Tauglichkeitsprüfung ihrer Angestellten anzuerkennen und es per psychologischer Untersuchung zu überwachen. Menschliches Versagen ist eine Möglichkeit, der man nur begegnen kann, indem man Menschen in die Augen blickt.

Wer die Methode Wegblicken bevorzugt und den Faktor Mensch aus dem perfektionierten technischen Alltag ausgrenzt, wer den Arbeitnehmer rein technisch, nur als funktionierendes Rädchen im Getriebe betrachtet, das bei Fehlfunktionen ersetzt wird, hat einen hohen Preis zu zahlen: wuchernde, am Ende unkontrollierbare Irrationalität, eine Zeitbombe. Ebenso wie die hochexplosive Gemenge-Lage von mangelnder Kritikfähigkeit, Selbstüberschätzung und Wunschdenken; eine Kombination, die hierzulande nicht nur in der Luftfahrt verbreitet ist.

Copyright: Dr. Hanna Rheinz

Video: Germanwings: "Das Geschehene tut uns unendlich leid": Germanwings bestätigt Airbus-Absturz

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