Forschung in der Psychologie: Auf dem Papier ist jeder mutig

Zivilcourage per Fragebogen erforschen zu wollen ist Unsinn. Doch realistische Verhaltensstudien sind vielen Psychologen zu mühsam

Nur auf dem Papier mutig? Viele Menschen gehen im realen Leben eher in Deckung, behaupten in Befragungen aber das Gegenteil

Nur auf dem Papier mutig? Viele Menschen gehen im realen Leben eher in Deckung, behaupten in Befragungen aber das Gegenteil

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie sitzen in einem Seminarraum an der Uni und füllen einen Fragebogen aus, ein anderer Teilnehmer im Raum tut das Gleiche. Plötzlich steht er auf, schnappt sich einen Computer-Speicherstick, der am Jackenständer hängt, und fragt dreist: »Ist das Ihrer? Nein? Dann ist es jetzt meiner.« Widersprechen Sie? Melden Sie den Diebstahl dem Versuchsleiter, sobald er wiederkommt?

In Befragungen behauptet etwa jeder Zweite, er würde in einem solchen Falle Zivilcourage zeigen und den Missetäter zur Rechenschaft ziehen. Doch Psychologen der Universität Göttingen wollten es genauer wissen: Sie stellten die Situation an ihrer Universität nach und beobachteten, wie ihre Probanden reagierten. Ergebnis: Gerade mal drei von zwanzig Studienteilnehmern stellten sich dem vermeintlichen Dieb in den Weg.

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Wie Menschen handeln, hat also oft nicht viel mit dem zu tun, was sie sagen. Dennoch beschränken sich nahezu alle psychologischen Studien zum Thema Zivilcourage auf Befragungen; man gibt hypothetische Situationen vor und registriert die Antworten der Probanden. »Das ist Quatsch, darauf kann man sich überhaupt nicht verlassen«, folgert der Göttinger Psychologie-Professor Stefan Schulz-Hardt aus seinem Experiment.

Diese Art von Lebensferne ist symptomatisch für die psychologische Forschung. Vor Jahrzehnten organisierten ihre Vertreter mitunter erschreckend realistische Studien (siehe Kasten), heute lassen sie ihre Probanden meist nur noch Fragebögen ausfüllen oder am Computer Aufgaben bearbeiten. Der Psychologe Roy Baumeister, einer der meistzitierten Vertreter seines Fachs, höhnt über diese Herangehensweise: »Menschliches Verhalten findet praktisch immer im Sitzen statt, gewöhnlich vor einem Computer. Fingerbewegungen wie beim Tippen oder Ankreuzen mit einem Stift machen den Großteil menschlicher Aktivität aus.«

Bibb Latané undJohn Darley

Als 1964 in New York eine Frau vor den Augen von 38 Anwohnern ermordet wurde, ohne dass jemand die Polizei rief, wurde die Schuld der Apathie der Großstadtbewohner zugeschrieben. Die Sozialpsychologen Bibb Latané und John Darley vermuteten dagegen, dass gerade die große Zahl der Zeugen dem Opfer zum Verhängnis geworden war. Zum Beweis baten sie Studenten einzeln in einen Raum in einem langen Flur. Dort hörten die Teilnehmer über eine Sprechanlage andere Studierende von ihren Schwierigkeiten an der Uni berichten. Plötzlich schien einer der Sprecher einen epileptischen Anfall zu erleiden. Er stammelte »Hilfe«, »Ich sterbe« und gab Erstickungslaute von sich. Den Zuhörern zitterten die Hände. Wähnten die Probanden sich allein mit dem angeblichen Kranken, eilten ihm 85 Prozent zu Hilfe. Doch nur jeder Dritte stürzte binnen einer Minute los, sofern er glaubte, dass noch vier andere zuhörten.

Stanley Milgram

Der Psychologe Stanley Milgram versuchte Anfang der sechziger Jahre, den Ursachen des Holocaust auf die Spur zu kommen. Er suggerierte seinen Versuchspersonen, sie müssten die Lernfortschritte einer zweiten Testperson überwachen, die in einem Nebenraum saß. Dabei sollten sie dem vermeintlichen »Schüler« für jeden Fehler einen elektrischen Schlag versetzen und dessen Intensität nach und nach steigern. Was sie nicht wussten: Die Elektroschocks wurden nur vorgetäuscht, der »Schüler« war in Wirklichkeit ein Schauspieler. Dennoch klangen dessen Schmerzensschreie äußerst lebensecht. Wollten die »Lehrer« das Experiment abbrechen, übte ein angeblicher »Versuchsleiter« Druck aus. Das genügte, dass zwei Drittel der Probanden trotz Gewissensbissen weitermachten und am Ende sogar bereit waren, tödliche Stromstöße zu verabreichen. Dieses verstörende Resultat führte Milgram darauf zurück, dass Menschen sich von Autoritäten offensichtlich enorm beeinflussen lassen.

Philip Zimbardo

1971 richtete der Psychologe Philip Zimbardo im Keller der Universität Stanford ein künstliches Gefängnis ein. Eine zufällig ausgewählte Hälfte seiner Versuchspersonen zog dort als »Gefangene« ein, die anderen jungen Männer wurden zu »Wärtern« ernannt. Binnen weniger Tage fingen die Wärter an, die Gefangenen zu misshandeln. Viele Häftlinge brachen psychisch zusammen. Nach sechs Tagen brach Zimbardo das auf zwei Wochen geplante Experiment ab – aber erst, nachdem seine Freundin massiv protestierte hatte. Der Psychologe nahm das Ergebnis als Beleg dafür, wie sehr die situativen Umstände entscheiden, was ein Mensch tut.

Belege für diesen Trend findet Baumeister etwa im Journal of Personality and Social Psychology , der führenden Fachzeitschrift der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Als Baumeister mit einigen Kollegen kürzlich diverse Nummern des Journals auswertete, zeigte sich, dass nur 20 Prozent der jüngsten Studien sich mit echtem Verhalten befassten. Vor drei Jahrzehnten waren es noch 80 Prozent.

Dabei waren es gerade die lebensnahen Experimente der Vergangenheit, die überraschende Erkenntnisgewinne brachten und bis heute als Marksteine der Psychologie gelten. Heute dagegen wird ein Großteil der psychologischen Forschung so geplant, dass man mit bescheidenem Aufwand schnell viele Daten sammeln kann. Das ist für viele Fragestellungen sinnvoll, für viele andere jedoch keineswegs. Ironisch kommentiert der emeritierte Hamburger Psychologie-Professor Kurt Pawlik diese Entwicklung: Früher sei die Psychologie gerne als »Seelenwissenschaft ohne Seele« verspottet worden, heute könne man sie als »Verhaltenswissenschaft ohne Verhalten« bezeichnen.

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