Forschung: Die Literatur und die Medizin im Blick

Medizinische Themen wie Krankheit, Tod oder Psychologie sind seit Jahrtausenden Thema der Literatur. Man denke an „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert, an Thomas Manns „Der Zauberberg“ oder Émile Zolas „Nana“. Viele Literaten waren zudem Ärzte, bekannt sind vor allem Friedrich Schiller, Gottfried Benn, Rainald Goetz und Uwe Tellkamp. Die literarische Verarbeitung von medizinischen Themen, das Wissen der Literatur über diese Themen, ist seit einigen Jahren in der Literaturwissenschaft großes Thema.

Wechselseitiger Austausch

Auf der anderen Seite stehen die Ärzte, Psychologen, Psychiater, die sich literarischer Sprache bedienen, um Krankheiten zu erfassen und zu systematisieren. Durch Sprache wird das Wissen über die Krankheiten quasi festgeschrieben. Auf diese Art und Weise lässt sich ein wechselseitiger Austausch zwischen der Literatur und den Humanwissenschaften beobachten, der für die Erforschung des anthropologischen (griech. anthropos – Mensch, logos – Lehre) Wissens überaus interessant ist.

Benn, Döblin, Goetz

Yvonne Wübben, Juniorprofessorin an der RUB, bewegt sich durch ihre doppelte Ausbildung als promovierte Medizinerin und Germanistin an der Schnittstelle der beiden Bereiche. Sie beschäftigt sich nicht nur mit medizinischer Literatur seit dem 18. Jahrhundert, sondern auch mit den Werken von Gottfried Benn, Alfred Döblin, Rainald Goetz oder Ian McEwan. In ihrem Buch „Verrückte Sprache“, das demnächst erscheint (Untertitel: „Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts“ bei Konstanz University Press, 44,90 €), analysiert sie, wie Psychiater Gedichte von Autoren, etwa von Friedrich Hölderlin oder Hannah Arendt, für diagnostische Zwecke analysieren und welche literarischen Normen dabei anlegt werden.

Promotion über Schizophrenie

„Ich hatte schon immer großes Interesse an Psychologie und dem Menschen. Ein Psychologiestudium wollte ich aber nicht absolvieren, da mich auch die körperliche Seite interessierte.“ Geweckt wurde das medizinische Interesse der Wissenschaftlerin tatsächlich durch die Literatur. Nach ihrem Studienabschluss in Medizin im Jahr 1995 wurde sie 1999 über das Thema Schizophrenie promoviert. „Mir war die rein medizinische Fragestellung allerdings zu eng gefasst. Mein Interesse lag auf der Geschichte und eben demjenigen, was die Experimente nicht erfassen können.“

Im Jahr 2000 begann sie daher das Studium der Philosophie und Germanistik, die Promotion folgte 2003 in der Germanistik. Die Verbindung von medizinischer und germanistischer Ausbildung zeigt sich nicht nur in ihren zahlreichen Publikationen - etwa zu Erzähltechniken in psychiatrischen Lehrbüchern, Gutachten oder literarischen Fallerzählungen - sondern vor allem auch in dem aktuellen Mercator-Forschungs-Projekt „Räume anthropologischen Wissens“, bei dem sie die Arbeitsgemeinschaft „Literatur und anthropologisches Wissen“ leitet.

Konjunktur bestimmter Krankheitsbilder

Ihre AG legt den Schwerpunkt auf Darstellungen und Erzählungen in Psychiatrie-Lehrbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

„Uns interessiert vor allem, wie das damalige Wissen schriftlich erfasst und systematisiert wird. Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Konjunktur bestimmter Krankheitsbilder und ihrer Erfassungsart feststellen“.

Geschichte der Wissenschaften.

Sprachauffälligkeiten in archivierten Briefen weisen am Beginn des 20. Jahrhunderts etwa auf Schizophrenie. „Die Ergebnisse der Diagnostik werden durch eine Sprachenorm gelenkt“, erläutert Wübben, die bis zum Ende des Projekts im Jahr 2016 wissenschaftliche Lehrbücher erforschen wird. Denn: „Lehrbücher dienen nicht nur der Vermittlung von Wissen, sie geben auch Aufschluss über die Geschichte der Wissenschaften und darüber, wie sie jeweils Wissen über Welt transportiert. Das ist noch sehr viel Arbeit, da viele Lehrbücher schwer zu greifen und oft kaum erforscht sind.“

Nicole Bischoff

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