Flut-Psychologie "Ein Gaffer ist an sich ein feiger Mensch"

Die Welt: Herr Thiel, Wie können Sie das Phänomen des Katastrophentourismus als Psychologe erklären?

Michael Thiel: Eine neutrale und vielleicht wertfreie Erklärung stammt aus der Evolutionspsychologie. Wir Menschen scheinen genetisch so veranlagt zu sein, dass wir unsere Aufmerksamkeit besser auf Negatives als auf Positives lenken können. Das heißt: Wir erinnern uns an eine grauenvolle Tat länger als an etwas Freundliches. Bei einem Unfall zum Beispiel versuchen wir, durch das Gaffen an Informationen zu kommen und zu erfahren, was da gerade los ist, um uns gegebenenfalls selbst in Sicherheit bringen zu können oder sogar etwas daraus zu lernen. Wir entwickeln also Strategien, damit uns das Gleiche erspart bleibt.

Die Welt: Ist das bei Zuschauern bei der aktuellen Flut auch so?

Thiel: Nein, was wir jetzt bei der Flutkatastrophe erleben – also zum Beispiel ein Picknick machen und dabei die Freiwilligen beobachten –, das hat eine ganz andere Qualität. Diese Menschen gaffen in einer Mischung aus Sensationsgier, Schadenfreude und der Suche nach einem emotionalen Kick. Sie erleben Emotionen aus der sicheren Distanz heraus, ohne selbst betroffen zu sein, fast wie ein Fernsehzuschauer, der sich bei einem Krimi gruselt. Es gibt in unserem Gehirn sogenannte Spiegelneuronen, durch die beim Beobachter von Unglücken im Gehirn ähnliche Prozesse ablaufen wie bei den Betroffenen selber. Ein Gaffer erlebt sogar einen Adrenalinkick. Das kann durchaus süchtig machen.

Die Welt: Aber diese Leute wissen doch, dass das nicht richtig ist.

Thiel: Das ist jetzt die entscheidende Frage. Einige blenden es vermutlich völlig aus, weil sie meinen, sie hätten das gute Recht, sich über die aktuelle Lage zu informieren. Wir wissen zum Beispiel von Unfällen, dass Gaffer ohne Unrechtsbewusstsein Rettungskräfte behindern. Es gab aber schon immer Menschen, die an Katastrophen Vergnügen finden. Es gibt deshalb vielleicht auch psychologische Erklärungsmöglichkeiten, aber menschlich gibt es da kein Gutheißen oder keine Entschuldigung.

Die Welt: Welche Rückschlüsse lässt das auf den Charakter der Schaulustigen zu?

Thiel: Was diesen Gaffern auf jeden Fall fehlt, ist eigentlich das, was uns menschlich macht, nämlich Empathie, auch Einfühlungsvermögen genannt. Wenn sich jemand in die Situation der Flutopfer einigermaßen einfühlen kann, der fährt nicht hin, sondern spendet. Oder er fährt hin, um zu helfen. Oder er teilt zumindest die Thermoskanne, die er mitgebracht hat, mit den Freiwilligen und Betroffenen. Bei den Gaffern überwiegt aber das Gefühl der Sensationslust. Sie ergötzen sich an dem Leid anderer. Das widerspricht eigentlich dem ur-menschlichen Gefühl nach Helfen und Solidarität.

Die Welt: Es gibt Forderungen, Gaffer mit empfindlichen Geldbußen zu bestrafen, teilweise mit bis zu 5000 Euro. Wie sehen Sie das?

Thiel: Ich halte es für sehr vernünftig. In dem Moment, in dem nicht nur mit so einer empfindlichen Strafe gedroht, sondern sie tatsächlich verhängt wird, sucht er vermutlich das Weite. Weil ein Gaffer an sich ein feiger Mensch ist, wird ihm die Sache wohl keine 1000 Euro wert sein. Er wird sich seinen Kick beim Fernsehen oder Lesen der Zeitung holen.

Die Welt: Sollten Schaulustige zum Mithelfen aufgefordert werden?

Thiel: Das ist eine sehr gute Idee. Rettungskräfte werden bereits in diesem Sinne geschult. Die direkte Ansprache bewirkt, dass der Gaffer bloßgestellt wird und er sich aus seiner Komfortzone herausbewegen muss. Und dann muss er Farbe bekennen, ob er wirklich nur ein Spanner ist oder ob in ihm doch noch ein Funken Mitleid und Empathie steckt.

Die Welt: Fördern soziale Medien den Katastrophentourismus?

Thiel: Nein, gerade bei der Flutkatastrophe haben wir beobachten können, dass soziale Medien sehr hilfreich sind, weil sie Informationen weitergeben und sehr schnell Leute mobilisieren können. Gaffer werden sich mit sozialen Medien nicht zufrieden geben, sie wollen direkt vor Ort sein, als Augenzeuge oder auch Bestandteil einer Jahrhundert-Katastrophe.

Die Welt: Was ist denn schlimmer: Gaffen oder Wegschauen?

Thiel: Das Wegschauen in Situationen, nehmen wir zum Beispiel, dass jemand in der S-Bahn belästigt wird und man schaut weg, ist natürlich auch unterlassene Hilfeleistung. Das Handy zücken und die Polizei rufen, das kann jeder. Auch wenn man sich nicht direkt einmischt, sondern das auch sicherer Distanz macht. Aber dieses Wegschauen könnte man immerhin noch als Schutzmechanismus erklären, weil man zum Beispiel Angst hat, in eine möglicherweise gewalttätige Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. Das ist immer noch nicht gut und natürlich moralisch verwerflich, ist aber immer noch verständlicher. Das Gaffen aber ist eine bewusste, aktive Handlung, man fährt ganz bewusst in der Vorfreude, Leid zu sehen, in das Katastrophengebiet. In der Abstufung des Elends, wenn Sie so wollen, ist das Gaffen graduell für mich schlimmer als das Wegschauen. Aber, um das noch einmal deutlich zu machen, es ist beides schlimm.

Mehr über Michael Thiel, der auch als Coach arbeitet, finden Sie hier.

Hier finden Sie alle Informationen zur Flutkatastrophe 2013.

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