FAZ-Sachbücher der Woche Wie unterscheidet man schlaue Anwälte von guten? – FAZ

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Gerd Blum schreibt eine Biografie über Giorgio Vasari, Jodi Kantor porträtiert die Obamas und drei Bücher behandeln die Arabellion. Dies und mehr in den F.A.Z.-Sachbüchern der Woche.

Kunden, die Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" gekauft haben, kauften - laut Amazon vom Samstag - oft auch Kirsten Heisigs Buch über jugendliche Gewalttäter. Des Weiteren kauften sie Bücher von Udo Ulfkotte, Henryk M. Broder, Hans Olaf Henkel, außerdem "Deutschland schlafft ab" und einen Band "Sarrazin. Die deutsche Debatte".

Das spricht für ein etwas einseitiges Interesse an Sarrazins Argumentation. Denn in der Frage, ob ihre soziobiologischen Grundlagen haltbar sind, sind die meisten jener Zusatzlektüren ja nicht informativ. Dieter E. Zimmer, einst Redakteur der "Zeit", Autor zahlreicher Sachbücher zur deutschen Sprache, gegen die Psychoanalyse und über Vladimir Nabokov, legt jetzt eine sehr entschiedene Schrift vor, für die das Gegenteil gilt.

Intelligenz ist erblich

Welche der beiden Thesen, so Zimmer, stimme denn nun: dass "auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind", wie Sarrazin formuliert? Oder dass dieser "relative Misserfolg wohl kaum auf angeborene Fähigkeiten und Begabungen zurückgeführt werden" könne, weil er muslimische Migranten unterschiedlicher Herkunft gleichermaßen betreffe, wie es bei ihm an anderer Stelle heißt? Zimmer notiert, dass es sich hier um Fragen der Populationsstatistik handele, weshalb sich kein Einzelner gekränkt fühlen müsse, wenn seine Gruppe im Durchschnitt schlecht abschneide. "Kein Deutscher leidet darunter, dass Hongkongs Durchschnitts-IQ neun Punkte höher liegt."

Seine Titelfrage beantwortet Zimmer klar: Intelligenz ist erblich. Darauf deuten Zwillingsstudien hin, wie sie verlässlich seit etwa dreißig Jahren vorliegen. Eineiige, genetisch identische Zwillinge, die bald nach der Geburt getrennt und also unterschiedlichen Lernumwelten ausgesetzt waren, wurden auf ihre kognitiven Fähigkeiten hin untersucht. An der Vererbung können Unterschiede bei ihnen nicht liegen. Allerdings gibt es nicht sehr viele solcher Fälle.

Intelligenz ist kein genetisches Programm

Die maßgebliche Studie aus Minneapolis konnte ganze 56 früh und lange getrennt aufgewachsene Paare und 274 zusammen sozialisierte testen. Fürs Hochrechnen auf die Menschheit erscheint das wenig. Dabei ergab sich, dass die individuellen Intelligenzunterschiede nur zu einem Viertel aus Umwelteinflüssen erklärt werden können. Gemeinsame Erziehung macht Kinder also, was ihre kognitiven Möglichkeiten angeht, nur moderat ähnlicher.

Solche Ergebnisse sind empfindlich dafür, in welchem Alter die Zwillinge getestet werden. Zimmer unterstreicht außerdem, dass es nie einen strikten Zusammenhang zwischen Genen und Intelligenz gibt. Und er betont, dass Intelligenz kein genetisches Programm ist, das einzelne Verhaltensabläufe regeln würde. Die Evolution hat uns nicht speziell aufs Abitur vorbereitet.

Spott über wissenschaftliche Tests ist witzlos

Vergleiche von Deutschen mit Lipizzanern und Migranten mit sich einkreuzenden Ackergäulen, wie sie Thilo Sarrazin zuletzt zum Besten gab, verbieten sich insofern - auch wenn das Auditorium wiehert - genauso wie die Vorstellung, dass am Individuum selbst unterschieden werden könnte, wie viel es seinen Genen verdankt. Zu glauben, man habe drei Viertel Grips von den Eltern und eines von der Gesellschaft, wäre, wie Zimmer schreibt, so unsinnig wie die Aussage "Mein Durchschnittsalter ist dreißig". Erblichkeit ist ein Befund an Kollektiven. Wenn von Intelligenz gesagt wird, sie sei zu drei Viertel erblich, heißt das: Die in einer Gruppe gemessenen Unterschiede beruhen zu 75 Prozent auf genetischen Variationen.

Was aber wird überhaupt vererbt, wenn Intelligenz vererbt wird? Zimmer erklärt sehr eingehend das psychologische Messkonzept für schnelles, präzises, abstraktes Denken. Der Spott darüber, dass auch die wissenschaftlich verwendeten Tests keine lebensnahen Probleme stellen, sondern nur solche, die eindeutige Lösungen haben, dass es hier um Denksport und nicht um Klugheit gehe, ist witzlos. Denn zwar besteht Kognition aus mehr als der Fähigkeit, gedrehte Figuren wiederzuerkennen, zu wissen, was "Philister" heißt, oder Zahlenreihen richtig fortzusetzen. Kein ernstzunehmender Psychologe würde behaupten, Ausdauer, Gewissenhaftigkeit oder Konzentration seien unerheblich. Auch leugnet niemand, dass Intelligenz gut wie böse sein oder zur Angeberei unter Lipizzanern eingesetzt werden kann.

Kognitive Leistungen kovariieren

Doch schon 1904 hatte der Psychologe Charles Spearman entdeckt, dass gute Schüler meist nicht nur in einem Fach gut sind, kognitive Leistungen in unterschiedlichen Tests - kulturabhängigen wie wissensunabhängigen - also "kovariieren". Die Vermutung, dass es Fähigkeiten gibt, die sich in "Denksportaufgaben" beweisen, aber darüber hinaus wirksam sind, gilt auch nach einhundert Jahren noch. Aus denselben Gründen finden an Schulen Mathematik- und Literaturklausuren statt, die mit dem Leben, auf das sie vorbereiten sollen, auf den ersten Blick wenig zu tun haben.

Die Vorbehalte gegenüber wissenschaftlichen Intelligenztests wären also nur am Platz, wenn jemand auf den Gedanken käme, die Prüfungsvielfalt der Schule durch sie zu ersetzen oder die Schule komplett in eine Prüfung zu überführen. Zimmers Argument zugunsten des Einsatzes von IQ-Tests in der Personalauswahl von Unternehmen, "wo man sich keine Flausen leisten kann", begeht einen ähnlichen Denkfehler. Nicht nur leisten sich Unternehmen ziemlich viele Flausen. Berufliche Leistungsfähigkeit ist auch keine Größe, die an isolierten Individuen festgestellt werden kann. Hier schwächt der Autor seine Darstellung unnötig, weil die einzigen Disziplinen, die er heranzieht, Psychologie und Biologie sind und weil er Erkenntnis allein quantifizierenden Studien zutraut.

Auch genetisch gleiche Kinder entwickeln sich unterschiedlich

Gemessene Intelligenz, das hält Zimmer durchaus fest, übersetzt sich weder vollständig in Schul- noch in Berufserfolg, wenngleich es je nach Studie unterschiedlich ausgeprägte Zusammenhänge gibt. Die Berufsskala und die Bildungsabschlüsse sind nach dem IQ gestaffelt. Doch in mehr als drei Viertel aller Berufe, vom Physiker bis zum LKW-Fahrer, finden sich Personen mit den höchsten messbaren Intelligenzniveaus. Und mehr als die Hälfte aller Mechaniker schneidet in Tests besser ab als die schlechtesten Juristen, wobei beides wiederum nichts darüber sagt, ob es sich um gute Mechaniker und unfähige Anwälte handelt.

Eine andere Relativierung von Intelligenz nimmt die Biologie selbst vor: Mit dem Alter verändern sich verschiedene Komponenten der Testleistung wie Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Rechenkapazität, Sprachgedächtnis und Ausdrucksvermögen. Es gibt zudem "Individualumwelten", die dafür sorgen, dass auch genetisch gleiche Kinder sich unterschiedlich entwickeln, und es gibt Familienumwelten, die Adoptivkinder anähneln. Zimmer gibt auch hier den komplizierten Stand der psychologischen Erkenntnis wieder.

Die Geographie bündelt die Bildungsverlierer

Doch was bedeutet das nun alles für die Ausgangsfrage nach den Gründen für das relative Zurückbleiben türkischstämmiger Schüler etwa im Pisa-Test? Am "Migrationshintergrund" liege es jedenfalls nicht, es gibt hocherfolgreiche Migrantengruppen. Die Kinder aus muslimischen Familien wiederum liegen in Mathematik durchschnittlich etwa fünf Punkte zurück, wenn man die Gesamtdurchschnittsleistung mit hundert ansetzt. Innerhalb ihrer Gruppe existieren je nach genauer Herkunft aber ebenfalls Unterschiede von bis zu fünf Punkten.

Sarrazins Behauptung, die Muslime seien "gleichermaßen" von Bildungsdefiziten betroffen, ist also falsch. Nicht die Religion, so Zimmer, sondern die Geographie bündele die Bildungsverlierer: Zehn Punkte unter dem Durchschnitt liegen Schüler vom Balkan, aus Griechenland und der Türkei.

Was lässt sich beweisen?

Ist dieser Leistungsrückstand, etwa der türkischstämmigen Schüler, genetisch bedingt? Zimmer zuckt mit den Achseln: Für die Türken gebe es, soweit man Indizien dafür hat, keine Diskrepanzen zwischen den IQs in der Fremde und daheim. Und individuelle Intelligenz sei nun einmal überwiegend erblich.

Doch beweisen lasse sich "die genetische Entstehung und Transmission von Gruppenunterschieden durch Populationsvergleiche grundsätzlich nicht. Widerlegen aber auch nicht." Dazu müsste vielmehr ermittelt werden, welchen Anteil bildungsfeindliche Faktoren haben, die mitmigriert sind, Fähigkeiten der Eltern, Verständnisschwierigkeiten beim Lesen auch von Mathematikaufgaben und Leistungen diesseits der Intelligenz - etwa Anwesenheit im Unterricht - am Test- oder Schulerfolg haben.

Schlussfolgerungen gelten nur im Durchschnitt

Hier liegt das größte Manko dieses sehr lesenswerten, aufklärenden Buches. Die Intelligenzforschung ist ein ziemlich spezialisiertes Feld, auf dem raffinierte Untersuchungsmethoden eingesetzt werden. Je näher man allerdings Fragen jenseits der Wissenschaft kommt, desto vorsichtiger wird man Schlüsse aus richtig gerechneten Quotienten und Studien an fünfzig armen Kindern in North Carolina ziehen müssen. Wie etwa kommt man von Punktunterschieden beim IQ zwischen hundert und 105 zu Urteilen über "Begabung" und Prognosen über Lebensläufe?

Und wie beispielsweise Dieter E. Zimmer zu dem Satz, Ungleichheit der Begabung lasse sich nicht durch Erziehung ausgleichen? "Erziehung", schreibt er, "kann nur Korrekturen vornehmen, von denen nicht sicher ist, ob sie von Dauer sind." Doch das ist fahrlässig formuliert, denn es gilt, Zimmer selbst hat es unterstrichen, wenn es überhaupt gilt, nur im Durchschnitt. Es werden aber keine Durchschnitte erzogen, sondern Personen.

JÜRGEN KAUBE

„Ist Intelligenz erblich? - Eine Klarstellung. Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2012. 316 S., geb., 19,95 [Euro].

Quelle: F.A.Z.
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