© Kat Menschik
Dies ist eine Geschichte über Enttäuschungen und eine bahnbrechende Forschung, die in die Irre ging und dann zu einem Instrument politischer Manipulation wurde: Verhaltensökonomie.
Zu den heißesten Themen in Finanzwissenschaft und Ökonomie gehört seit zwei Jahrzehnten die Verhaltensökonomie, ein Fachgebiet, das seinen Ursprung in den Forschungen von Daniel Kahneman und Amos Tversky hat. Tversky starb 1996, und Kahneman erhielt 2002 den von der schwedischen Reichsbank zu Ehren von Alfred Nobel gestifteten Preis für Wirtschaftswissenschaften. Das Nobelkomitee verwies damals auf ihre gemeinsame Arbeit über „die Erwartungstheorie als eine Alternative, die stärker das beobachtete Verhalten“ von Menschen bei solchen Entscheidungen berücksichtigt, „deren zukünftige Folgen ungewiss sind“. Aber sind sie das nicht immer?
Das klassische financial modeling nimmt an, dass Menschen Entscheidungen auf eine kühl nutzenorientierte Weise träfen, die deshalb einer mathematischen und statistischen Behandlung zugänglich wäre. Kahneman und Tversky sammelten eine Reihe irrationaler und gar nicht kühler Besonderheiten bei Beobachtungen dazu, wie Menschen sich beim Glücksspiel zwischen alternativen Wetten im Hinblick auf ihre potentiellen Gewinne und Verluste entscheiden. Hier nur zwei ihrer zahlreichen Entdeckungen: Menschen fürchten die Wahrscheinlichkeit, fünf Dollar zu verlieren, mehr, als sie eine gleich hohe Wahrscheinlichkeit schätzen, fünf Dollar zu gewinnen. Und Menschen unterschätzen in der Regel die Wahrscheinlichkeit des Eintretens seltener Ereignisse (sogenannter schwarzer Schwäne). Im Kern behaupten Kahneman und Tversky, Menschen seien psychologisch nicht dazu qualifiziert, bei Glücksspielen rationale Entscheidungen zu treffen.
Homo oeconomicus oder Homo affectus?
Nicht alle sind derselben Meinung wie Kahneman und Tversky. Das wirkliche Leben ist ja auch nicht immer ein Glücksspiel. Während wir die Wahrscheinlichkeit beim Münzwurf exakt bestimmen können, ist das bei menschlichem Verhalten nicht möglich. Lebendige Wesen werden von Motiven angetrieben, die sich der statistischen Erfassung entziehen können. Unser Rechtssystem weiß das und befindet Angeklagte nicht auf der Grundlage statistischer Beweise für schuldig oder unschuldig, sondern auf der Basis des Urteilsvermögens und der Glaubwürdigkeit. Eine Kritik des von Kahneman und Tversky verfolgten Ansatzes können Sie in einem interessanten Aufsatz von Alex Stein mit dem Titel „Are People Probabilistically Challenged?“ lesen, der im kommenden Jahr in der „Michigan Law Review“ erscheinen wird.
Aber lassen wir diese Kritik für den Augenblick einmal beiseite und akzeptieren wir Kahnemans und Tverskys Beweis, wonach die Menschen kaum geeignet sind, rationale Entscheidungen zu treffen. Auf dieser Grundlage entwickelten Kahneman und Tversky die sogenannte Erwartungstheorie. Darin ersetzten sie die rationalen Vorstellungen vom Homo oeconomicus, wie ihn die klassische Wirtschaftstheorie versteht, durch jene empirisch bestimmten „irrationalen“ Werte, die der ängstliche und in seiner Gier hitzige Homo affectus verwendet.
„Sportbezogene Gefühle“
Die klassische Wirtschaftstheorie war elegant, aber mit Mängeln behaftet. Die Erwartungstheorie dagegen war eine schöne Idealvorstellung, die diese Mängel beheben sollte, indem sie die tatsächlichen menschlichen Präferenzen bei der Bestimmung ökonomischer Werte berücksichtigte.
Leider kam es anders. Erstens gingen die Ziele der Erwartungstheorie als Wissenschaft menschlichen Verhaltens im Strudel wachsender mathematischer Komplexität unter. Zweitens nutzten Wissenschaftler die Verhaltensökonomie als Deckmantel, um Abhandlungen aller Art über scheinbare Irrationalitäten zu verfassen. Drittens florierte in erster Linie jener Teil der Verhaltensökonomie, in dem es um den Gedanken geht, Menschen seien hinsichtlich der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten minderbemittelt, weshalb der Staat und die Behörden sie mit Unterstützung durch die Wissenschaftler drängen sollten, das zu tun, was „gut“ für sie sei.
Die Forschung in der verhaltensorientierten Finanzwissenschaft hat einen seltsamen Umweg genommen, der sich mehr mit Psychologie als mit Finanzwissenschaft befasst. Hier einige Titel und Auszüge aus den Abstracts neuerer Forschungsarbeiten in einem Newsletter, den ich abonniert habe. (Ich habe die Namen der Autoren weggelassen, aber Sie können alle Texte unter ssrn.com finden.) Da geht es um „Finanzpsychologie der Vorsicht bei Frauen“ („Die neue, von der Forschung zu klärende Hypothese lautet, dass Frauen bei Finanzdienstleistungen und Investmentprodukten... größere Vorsicht walten lassen als Männer“). Oder um „Sportbezogene Gefühle und Aktienerträge“ („Wir haben einen signifikanten Rückgang der Märkte nach verlorenen Fußballspielen festgestellt“).
„Zorn als Folge von Selbstbeherrschung“
Ein weiteres Thema lautet: „Wen kümmern Börsenbooms und -pleiten? Befunde aus Daten zur psychischen Gesundheit“ („Wir stellen Befunde vor, wonach Höhe und halbjährliche sowie jährliche Veränderungen der Börsenindices einen Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit aufweisen...“). Oder: „Hätten weibliche Führungskräfte die globale Finanzkrise verhindert? Implikationen für die Lehre in den Bereichen Gender, Verhalten und Ökonomie“.
Interessieren Sie sich für „Selbstwertgefühl, Scham und persönliche Motivation“ („Übermäßiges Selbstvertrauen und hohe Empfindlichkeit für Scham erweisen sich als austauschbare Mechanismen zur Herbeiführung effizienter Entscheidungen“)? Für „Willenskraft und optimale Kontrolle körperlichen Verlangens“ („Wir untersuchen das Verhalten eines Probanden, der in optimaler Weise über längere Zeit einen Kuchen verzehrt und erkennt, dass Zurückhaltung seine Willenskraft allzu sehr erschöpft.“)? Oder gar für „Früchte des Zorns: Zorn als Folge von Selbstbeherrschung“ („Wir haben herausgefunden, dass zwischen Selbstbeherrschung und zornigem Verhalten ein deutlicherer Zusammenhang besteht“).
Angeborene Trägheit
Hat das alles etwas mit Wirtschaft und Finanzen zu tun, hat es irgendeinen Nutzen, oder ist das nur eine zügellose Form von Arbeitsbeschaffung?
Und nun zum schlimmsten Teil, den ich mit der Kolumne einer australischen Autorin illustrieren möchte, auf die ich kürzlich gestoßen bin. Sie hatte ein Gespräch mit Kahneman geführt (http://bit.ly/pKS4GZ) und schrieb dann: „Kahnemann sagt, wir könnten dieses Wissen über unsere Irrationalität für die Politik nutzen. Wir sollten zusehen, dass die Leute sich bei Dingen, die wir für sozial erwünscht halten, förmlich dagegen entscheiden müssten (falls sie sie nicht wünschen), und bei Dingen, die wir für sozial unerwünscht halten, förmlich dafür (falls sie sie dennoch wünschen). Die angeborene Trägheit werde dann den Rest besorgen.“
Man beachte die unbedachte Verwendung der Ausdrücke „wir“ und „die Leute“. Ich schickte der Dame eine E-Mail und fragte sie: „Wer ist dieses ,wir‘, das bestimmt, was sozial erwünscht ist, und wer sind ,die Leute‘, die sich zu entscheiden haben?“ Darauf antwortete sie, das „wir“ stehe für die Gestalter der Politik, und dann fragte sie (rhetorisch?): „Funktioniert so nicht Demokratie?“
Was das Leben besser macht
Das glaube ich nicht. Es erinnert mich eher an die im Schlaf erfolgende Indoktrination der Betas in Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“: „Alphakinder tragen Grau. Sie arbeiten viel mehr als wir, weil sie so klug sind. Oh, wie froh bin ich, dass ich ein Beta bin und nicht so viel arbeiten muss! Wir Betas sind etwas viel Besseres als Gammas und Deltas. Gammas sind dumm. Sie tragen alle Grün, und Deltakinder tragen Khaki. Nein, ich mag nicht mit Deltakindern spielen. Sie sind zu dumm zum Lesen und Schreiben. Außerdem tragen sie Schwarz, und das ist eine abscheuliche Farbe. Oh, wie froh bin ich, dass ich ein Beta bin!“
Ähnliche Gedanken finden sich bei Richard Thaler, einem Ökonomen aus Chicago, der großen Einfluss in der Verhaltensökonomie besitzt und schon früh auf diesem Gebiet geforscht hat; er gehört außerdem zu den Autoren von „Nudge - Wie man kluge Entscheidungen anstößt“, einem Buch, das nach seinem eigenen Bekunden davon handelt, „wie man die Wissenschaft des Entscheidens dafür einsetzen kann, den Menschen das Leben zu erleichtern, indem man sie sanft in Richtungen schubst, die ihr Leben besser machen werden“.
Glaubt man einem jüngst erschienenen Nachrichtenartikel (http://nyti.ms/T0AZT8) gehört Thaler zu einem sogenannten Dreamteam-Konsortium von Verhaltenswissenschaftlern, die für den amerikanischen Präsidenten Obama arbeiten und ihrem „bevorzugten Kandidaten“ bei den Präsidentschaftswahlen 2012 helfen wollten. Unter anderem machten sie „Vorschläge, wie man den republikanischen Gegner Mitt Romney in Anzeigen charakterisieren sollte“.
Es ist bemerkenswert, dass die Verhaltensökonomie sich aus einem Forschungsgebiet zu einem Instrument der Manipulation von Menschen entwickelt hat - und das nicht nur im Zuge der Nutzung der gewaltigen Datenmengen, über die Amazon und Google verfügen, sondern auch durch das Interesse von Politik und Regierung.
Aber das ist keine Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk. Ich denke, ich würde lieber gezwungen als geschubst. Zumindest wären dann die Fronten klarer.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Quelle: F.A.Z.
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F.A.Z.-Kolumne Emanuel Derman: Fehlverhaltensökonomie
F.A.Z.-Kolumne Emanuel Derman
Fehlverhaltensökonomie
Von Emanuel Derman
Vom Missbrauch einer ganzen Forschungsrichtung: Die verhaltensorientierte Finanzwissenschaft geht einen Umweg über die Psychologie und wird zum Instrument zur Manipulation von Menschen.
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