Extreme Zeit: Jeder zehnte Pubertierende ist psychisch krank

Mit 14 entwickelt Bernhard* plötzlich einen Waschzwang. Bisher ein fröhliches Kind, schrubbt er sich nun ständig die Hände, spricht so gut wie überhaupt nicht mehr, verbringt die meiste Zeit in seinem Zimmer, vergräbt sich hinter dem PC. Seine Eltern, offen, zugewandt, beruflich erfolgreich und kontaktfreudig, sind ratlos. Sie gehen mit ihm zum Psychologen, der sie aufklärt: Psychische Störungen in der Pubertät seien gar nicht so selten.

In intensiven Gesprächen bringt der Experte Bernhard dazu, sich zu öffnen und von seinen Problemen zu erzählen: Wie wenig er anerkannt sei in der Klasse, weil er als Streber gelte. Wie sehr er sich unter Druck gesetzt fühle von den Eltern, die einen guten Schulabschluss von ihm erwarteten. Dass er zu schüchtern sei, Mädchen anzusprechen. Die Eltern werden einbezogen. Man spricht sich aus. Bernhard bleibt ein wenig der Sonderling, aber das permanente Händewaschen verschwindet.

Es hätte schlimmer kommen können. "Viele Zwangserkrankungen sind chronisch", sagt Marcel Romanos, Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg. "Die wenigsten lassen sich mit reiner Gesprächstherapie behandeln."

Heranwachsende sind oft schwer zugänglich

20 Prozent der Heranwachsenden entwickeln in der Pubertät psychische Auffälligkeiten. Rund zehn Prozent der Fälle seien so gravierend, dass sie behandlungsbedürftig werden, sagt die Kinderpsychiaterin Beate Herpertz-Dahlmann von der Aachener Universitätsklinik. Sie und ihre Kollegin, die Neurowissenschaftlerin Kerstin Konrad, forderten jüngst in zwei Übersichtsarbeiten im "Deutschen Ärzteblatt", Heranwachsende rechtzeitig zu untersuchen und zu betreuen, etwa in speziellen Sprechstunden.

"Leider", sagt Herpertz-Dahlmann, "nehmen Adoleszente ärztliche oder psychologische Hilfe nur unzureichend in Anspruch." Zudem könnten die angebotenen Tests der Kinder- und Jugendärzte zu Drogenmissbrauch oder Ess- und Sozialverhalten viele Störungen gar nicht erfassen. "Das erfordert ein vertrauensvolles Gespräch", sagt Herpertz-Dahlmann. Gerade Heranwachsende versuchen, so normal wie möglich zu erscheinen und tun sich sehr schwer, psychische Probleme zuzugeben."

Das typische Verhalten von Jugendlichen in der Pubertät erklärt sich die Wissenschaft mit einem Ungleichgewicht in der Hirnreifung. Das Modell der New Yorker Psychobiologin BJ Casey von der Cornell University geht davon aus, dass das schon ausgereiftere limbische System - zuständig für die Gefühlswelt - öfter als bei Erwachsenen die Oberhand gewinnt, weil die Kontrollinstanz des Gehirns, der präfrontale Kortex, in seiner Entwicklung noch hinterherhinkt. Ein Übriges tut die intensive Ausschüttung von Sexualhormonen.

Vernunft versus Gefühl

Das führt dazu, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene risikobereiter sind und Lust auf extreme Gefühle haben. Zwar sind sie zu rationalen Entscheidungen fähig. Aber wenn etwa unter Gleichaltrigen Anerkennung winkt, wird die Vernunft gerne in den Wind geschlagen. "Extremere Verhaltensweisen gehören zu dieser Entwicklungsphase dazu", sagt auch Marcel Romanos. Das müsse aber nicht per se krankhaft sein. Gleichwohl sei die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen "in dieser Zeit generell erhöht."

Der Blick in die Statistiken scheint die Theorie der Hirnforscher zu bestätigen: "Zu den häufigsten Todesursachen von 15- bis 20-Jährigen zählen Verkehrs- und andere Unfälle, Gewalt sowie Selbstverletzungen", sagt Kerstin Konrad. Jungen und Mädchen zeigten ähnlich häufig riskante Verhaltensweisen, wobei die Jungen vor allem bei Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und im Straßenverkehr auffielen, während die Mädchen sich häufiger gesundheitsgefährdenden Diäten unterzögen und Essstörungen entwickelten.

Insgesamt sind Störungen des Sozialverhaltens bei Jungen weiter verbreitet, während Mädchen eher mit Ängsten und Depressionen zu kämpfen haben. Dagegen ist für Mädchen, die sehr früh in die Pubertät kommen, das Risiko für ein gestörtes Sozialverhalten, Selbstverletzungen oder gar Suizidversuche besonders hoch. Den Jungen kann eine spät einsetzende Pubertät zu schaffen machen, da sie darunter leiden, bei den Gleichaltrigen nicht genug anerkannt zu sein. Früh pubertierende Jungen dagegen tendieren weitaus stärker als Spätzünder dazu, soziale Regeln zu missachten und anderen gegenüber gewalttätig zu werden.

Durch die schwere Zeit kommen

"Psychische Erkrankungen entstehen immer aus einem Wechselspiel von erblicher Veranlagung und Umweltfaktoren", sagt Romanos. Auch das Umfeld beeinflusse, wie gut die Heranwachsenden durch ihre schwere Zeit kommen: Eine zu strenge Erziehung, geringes Interesse der Eltern an ihren Kindern, Elternkonflikte, Trennung, Scheidung, Armut oder soziale Isolierung gelten als Risikofaktoren. Außerdem setzt es Jugendliche unter enormen Druck, wenn die Erwartungen an sie allzu hoch sind, zumal sie gerade im Begriff sind, in ihre neue soziale Rolle hineinzufinden.

Kerstin Konrad hält es für wenig sinnvoll, Jugendliche angesichts ihrer entwicklungsbedingten Emotionalität durch Verbote von gefährlichen Unternehmungen abhalten zu wollen. Sie schlägt vor, Heranwachsende auch gefühlsmäßig anzusprechen und ihnen beispielsweise bei Kampagnen von einem Serienstar oder einer anderen Identifikationsfigur klarmachen zu lassen, dass es viel cooler sei, eben nicht bei einem Saufwettbewerb mitzuhalten.

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