Ewig lockt die Selbstüberschätzung

Psychologie

Andreas Zeuch musste ärgerlich viel wissen, um zu begreifen, wie wenig er wusste. Die Unfähigkeit, eigene Inkompetenz zu erkennen, kann zum Problem werden.

22. Mai 2014

von Andreas Zeuch

Ich lese gerade das nächste Buch für mein Rezensionsblog: Schulden. Die letzten 5000 Jahre von David Graeber. Und hatte zum wiederholten Male eine kleine, feine biederdeutsche Erkenntnis: Mein Gott, bin ich naiv.

Da lese ich seit gut anderthalb Jahren fast jede Woche ein Buch, teils echte Werke mit 500 Seiten. Nein, lesen ist untertrieben. Ich ackere mich durch den Text, pflüge durch Fakten und daraus abgeleitete Argumentationen, sichte Fußnoten und Anmerkungsapparate und natürlich die nicht immer vorhandenen Bibliografien. Mein Lesepensum hat sich damit nicht erschöpft, es gibt auch einiges, was mich interessiert, was aber nichts mit meinem Blog zu tun hat.

Das alles nach einem erfolgreichen Studium und meiner Promotion. Bei all der Wissensarbeit entstand der Eindruck, einen gewissen Durchblick zu haben. Aber der wurde mir jüngst gründlich pulverisiert. Ich musste mir eingestehen: Auch ich leide, wie viele andere, in einem gewissen Maße an Selbstüberschätzung. Die jedoch stellt ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar.

Die epistemische Arroganz, wie Nassim Nicholas Taleb die Selbstüberschätzung nennt, ist ein echtes Problem. Sie führt dazu, dass wir glauben, mehr zu wissen und zu können, als das der Fall ist. Das Ergebnis kann sich jeder vorstellen, der eine halbwegs funktionierende Fantasie hat. Der Witz dabei: Ich schlage schon seit Jahren vor, unsere epistemische Arroganz in epistemische Bescheidenheit zu verwandeln. Konkret heißt das: Die weißen Flecken auf der eigenen inneren Landkarte zu erkennen und zu beachten; zu begreifen, dass wir immer - ja, immer - mehr nicht wissen, als wir wissen.

Die Konsequenz besteht darin, andere Menschen mehr in unsere Entscheidungs- und Handlungsprozesse einzubinden. Teil des Symptoms ist allerdings, dass man häufig erst ärgerlich viel wissen muss, um zu begreifen, wie wenig man eigentlich weiß. Das kennt jeder, der sich der aufwändigen und oft frustrierenden Aufgabe einer Doktorarbeit oder Habilitation gestellt hat.

Dunning-Kruger-Effekt

In der Wissenschaft wird das Phänomen der Selbstüberschätzung als Overconfidence Effect oder Bias behandelt. So wurden beispielsweise im Jahr 2008 an der Universität von Iowa insgesamt 3500 Fusionen und Übernahmen aus den Jahren 1985 bis 2002 untersucht. Daran beteiligt waren 2300 Vorstandsvorsitzende börsennotierter Konzerne aus den USA. Nach einer Untersuchung der Aktiengeschäfte und des Verlaufs der Börsenkurse zeigte sich, dass die CEO überdurchschnittlich viele weitere Aufkäufe planten, sofern eine Fusion geglückt war.

Das Problem dabei: Die Selbstüberschätzung führte dazu, dass die folgenden Fusionen nicht mehr so erfolgreich verliefen. Das führte nicht nur zu Reputationsverlust der Vorstände (was ja die gerechte Konsequenz ist), sondern kostete auch Arbeitsplätze (was hingegen reichlich unfair ist).

Ebenso ungünstige Erkenntnisse erbrachte eine andere Studie der Universität Toronto. Als Experimente von Biochemikern zu anderen Ergebnissen führten, als erwartet, kam es zu verschiedenen Varianten von Ausreden: Die Forscher schoben die unerwarteten Ergebnisse auf die Methodik, kaputte Gerätschaften oder - besonders überzeugend - auf Zufälle. Wenn sie dann die Versuche wiederholten und wieder dieselben Ergebnisse erhielten, ignorierten sie diese. Kurz: Sie kamen nicht mit dem klar, was sie nicht verstehen konnten. Und verrieten die eigentlich wissenschaftliche Position, den eigentlichen Forschergeist, der ja darin besteht, Neues zu finden und zu verstehen - auf der Grundlage, dass das vorhandene Wissen nicht ausreicht, um zu begreifen.

Besonders problematisch ist die Tatsache, dass Selbstüberschätzung eng gekoppelt ist mit der Unfähigkeit, die eigenen Inkompetenzen zu erkennen. In der Folge dümpelt man weiter vor sich hin und ändert nichts daran, weil es keinen Anlass dazu gibt. Dieses Phänomen, das wir gerne als „borniert“ beschreiben, sprich: als dümmlich (und gleichzeitig) eingebildet, wurde mittlerweile ebenfalls wissenschaftlich untersucht und ist heute unter dem Namen Dunning-Kruger-Effekt bekannt. Schwächere Leistungen treffen dabei häufig auf größere Selbstüberschätzung als bei Vergleichspersonen, die mehr Kompetenz aufweisen.

Universalgenie - eine lachhafte Illusion

Weil die Kombination von Selbstüberschätzung und Inkompetenz so fatal ist und im Geschäftsleben unglücklicherweise schwerwiegende Folgen haben kann, ist es ratsam, das dringend zu ändern. Einsicht ist auch hier der erste Weg zur Besserung. Das heißt vor allem: Sich selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen. Selbst dann, wenn man - so wie ich - eigentlich glaubt, schon recht viel zu wissen und auch selbstkritisch zu sein.

Als erstes hilft eine eigentlich banale Einsicht: „Unser Wissen ist eine Insel im Ozean des Nichtwissens.“ Dieser Satz wird verschiedenen Menschen zugesprochen, sagen wir mal, dass ihn so oder ähnlich auch der Physiker John A. Wheeler äußerte, den Sie vielleicht nicht namentlich kennen, aber doch aufgrund seiner Prägung des Begriffs Wurmloch. Die Zeit der Universalgenies ist vorbei. Endgültig. Eigentlich gab es sie eh niemals, denn das würde ja bedeuten, das einer in allen oder überragend vielen Gebieten menschlichen Wissens und Könnens genial ist.

Sogesehen ist auch Gottfried Leibniz als letzter offizieller Universalgelehrter, vulgo: Universalgenie eine lachhafte Illusion. Heute kann selbst ein promovierter Arzt mit anschließender Habilitation nicht mehr als sein eigenes äußerst begrenztes Spezialgebiet ernsthaft überblicken. Die Spezialisierung zeitigt eine ungeheure Fragmentarisierung. Und: Je mehr wir an neuem Wissen generieren, desto mehr neue Fragen erzeugen wir gleichzeitig. Es nutzt auch nichts, den Horizont fangen zu wollen...

Zweitens können wir, wenn wir mutig sind, eine Kultur gegenseitigen, wertschätzenden Hinterfragens etablieren. Dann lassen wir uns regelmäßig in Frage stellen. Natürlich setzt das voraus, dass wir auch gewillt sind, einzusehen, dass wir uns wohl gerade selbst überschätzt haben.

Insofern ist der dritte Punkt vielleicht der Wichtigste: Wir sollten die Grundhaltung eines Lernenden einnehmen. Wir lernen niemals aus. Wir können immer weiter dazu lernen. Eben lebenslanges Lernen, das als Schlagwort mittlerweile schon wieder out ist. Und das ist sicherlich nichts, was in irgendeiner Weise ehrenrührig wäre. Im Gegenteil: Wer wirklich lebenslang lernt, ist die postmoderne Antwort auf die alte Idee des Universalgenies.

Feel it! So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen.

von Andreas Zeuch.

  • Wiley, Weinheim, 2010
  • 262 Seiten, 24,90 Euro
  • ISBN: 978-3-527-50467-1

Siehe hier für weitere Informationen.

Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation.Andreas Zeuch in sozialen Netzwerken:

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