«Europa ist ein Kontinent der Ökonomie geworden»

In vielen Ihrer Filme schauen die Figuren fern, manchmal brüllen sie das Gerät sogar an. Passiert Ihnen das auch?
Mir passiert es häufiger, dass ich den Fernseher ausschalte. Unerträglich sind vor allem die Nachrichten, die sich ­immer wiederholen, und die Talkshows, in denen die Politiker stets dieselben pathetischen Dinge sagen. Ich ziehe im TV die Filme vor. Sie müssen nicht unterhalten, sondern können auch bitter sein. Das sind ja auch Repräsentationen der Wirklichkeit. Dennoch bleibt das Fernsehen meine einzige Verbindung zur Welt. In meinem Alter klicke ich mich nicht mehr durch Facebook.

Das Fernsehen wirkt in Ihren Kinofilmen wie das ständige Hintergrundflackern des Lebens.
Es ist ja ein grosses Thema in Italien, immer noch. Warum? Weil im Fernsehen Sein und Schein eins werden. Es bietet quasi eine perfekte Identität. Kommt hinzu, dass sich die private Sphäre im Fernsehen völlig auflöst.

Ist denn das Private nicht auch Ort der Rebellion? In «Buongiorno, notte» malten Sie sich aus, wie es wäre, wenn Aldo Moro nicht von den Roten Brigaden ermordet, sondern befreit worden wäre.
Ich wollte von dem Irrwitz erzählen, dass man im Namen einer Idee Menschen ermordet und sich selbst opfert. Die Terroristen sahen in Aldo Moro das Symbol einer korrupten politischen Klasse. Im Film aber erlebt die junge Frau, die ihn bewacht, eine Gewissenskrise und merkt, dass sie sich unter Verrückten befindet. Das letzte Bild zeigt Aldo Moros utopische Befreiung – etwas, was die Hoffnung vieler Italiener von ­damals ausdrückt. Doch er wurde ermordet. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde.

Im Film erträumt sich die Frau eine Situation, in der Aldo Moro gehen kann. Sind Träume Antikörper gegen fixe Ideen?
Es ist eine fantastische Vorstellung. Aldo Moro war ein verhasster Politiker, der auch falsche Entscheidungen traf. Aber mir ging es um den Moment, in dem ihn jemand aus der Nähe anschaut. Dann tritt ein verletzlicher Mensch hervor, der sein Leben zu retten versucht. Das geschieht uns allen: Man macht sich eine Vorstellung, weil man etwas gesehen hat. Aber sobald man näher rangeht, ändert sich der Blick. Wie wenn ich bei der Kamera von der Totale in die Nahaufnahme schalte. Dann beginne ich, Dinge zu entdecken. Diese Art von Enthüllung interessiert mich.

Sie zeigen in «Buongiorno, notte», dass die Kommunisten einen noblen Kampf geführt haben: den gegen die Faschisten. Wann führt die Linke wieder einen gloriosen Kampf?
Ich weiss es nicht. In den Siebziger­jahren wurden wir angetrieben von der Idee einer sozialen Revolution, von Brüderlichkeit und Gleichheit. Heute ist ja eigentlich vieles schlimmer geworden. Europa erlebt eine Regression in den Zustand der Wildnis. Das Wort «Solidarität» wird oft ausgesprochen, aber wovon man weniger hört, ist die Idee der Universalität. Also die Vorstellung einer internationalen Zukunft, in der sich alle Völker vereinigen. In der europäischen Katastrophe verteidigt sich derzeit jeder selbst. Obschon alle davon reden, dass man Europa als Ganzes retten muss.

Bleibt also der private Widerstand?
Mag sein. Heute bestimmt das Geld unsere Entscheidungen, auch die kulturellen und sozialen. Es herrscht eine ökonomische Strenge, in der jeder, der zu viel ausgibt, zurückzahlen muss. Europa ist ein Kontinent der Ökonomie geworden, in dem die wirtschaftlich Stärkeren versuchen, den anderen ihre Regeln aufzudrängen. Das politische Europa muss da notwendigerweise zurücktreten.

In Ihrem Kino überkreuzen sich Psychologie und Politik. Glauben Sie, dass es so etwas wie eine kollektive Psychologie gibt?
Vielleicht. In meinen Filmen schaue ich ins Innere der Figuren. Und ich habe meine Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht. Die Psychologie der Gruppen, das Geheimnis des Unbewussten, die Interpretation der Träume, das interessiert mich sehr. Für mich ist klar, dass all das nicht von der Politik zu trennen ist.

Wenn Sie in Ihrem Film «Vincere» Archivaufnahmen von einer Rede Mussolinis einsetzen, hat man das Gefühl, dass man das Unbewusste eines Landes sehen kann.
Absolut. Die Vermischung von Archivbildern, Fantasien, Träumen: Das ist mein Stil, meine Sprache. Wenn wir Mussolinis Reden sehen, wundern wir uns, wie es möglich war, dass eine ganze Nation einen Mann vergötterte, der aus heutiger Sicht wie ein Hanswurst wirkt. Aber es sind hypnotische Aufnahmen. Wenn man sie anschaut, versteht man vieles.

Man verfällt da auch Ihrem Kino des Imaginären.
Ich gehe von Gefühlen und Passionen aus. Und prüfe, ob das, was mir einfällt, ein Gewicht und eine Originalität hat. Klar ist mir: Ich bin ein Humanist. Die Idee, dass wir einer Zukunft der Roboter entgegenschreiten, in der alles durch raffinierte Technologie gelöst wird – das kann ich überhaupt nicht vertreten. Ich bin Teil einer anderen Welt. Ich hoffe, dass ich die Zeit nicht mehr erlebe, in der Menschen mithilfe von Medikamenten modifiziert werden und die reine ­Rationalität regiert. Das wäre das Ende der Menschheit.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 11.08.2015, 19:49 Uhr)

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