Etliche Schweizer Unternehmen rekrutieren ihre wichtigsten Mitarbeiter noch … – Tages

Körpersprache auf Papier sozusagen: Zeig mir, wie du schreibst, und ich sage dir, wer du bist. Das sagen Grafologinnen und Grafologen, die mit der Analyse von Handschriften Geld verdienen. Nur: Wer schreibt denn heute noch von Hand? Wir schreiben zwar so viel wie noch nie, doch die Handschrift droht zu ver­kümmern.

«Im Moment ist der Bedeutungs­verlust der Handschrift für die Grafologie keine akute Bedrohung», sagt Annemarie Pierpaoli, Präsidentin der Schweizerischen Graphologischen Gesellschaft (SGG). Praktisch alle Menschen würden weiterhin von Hand schreiben, und sei es nur für spontane, schludrige ­Notizen. Gerade diese weisen aber den ­höheren Ausdrucksgehalt aus als die ­sogenannt schöne, fast kalligrafisch ­wirkende Schrift.

Pierpaoli sagt aber auch: «Die Grafologie erlebt einen eklatanten Rückgang. Die Handschriftenanalyse ist bei der ­jüngeren Generation von Personal­managern und Berufsberatern deutlich weniger gefragt als noch vor 15 Jahren.» Hatte die SGG damals über 80 Mit­glieder, sind es jetzt nur noch 54.

Grösse, Weite, Schriftrichtung

Die Grafologie hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Es fehlen Forschungsergebnisse, die ihre Verlässlichkeit belegen würden. Deshalb hat sich die akademische Psychologie von ihr abgewandt. «Sämtliche Rückschlüsse von der Handschrift auf den Charakter einer Person sind wissenschaftlich nicht haltbar», sagt Margit Oswald, emeritierte Psychologie-Professorin an der Uni Bern.

Moderne Grafologie versteht sich als Schriftpsychologie. Sie orientiert sich an erfahrungswissenschaftlichen Prinzipien und untersucht Handschriften auf Grösse, Weite, Regelmässigkeit, Druck, Rhythmus und Schriftrichtung. «Es ist tatsächlich kein rein wissenschaftliches Instrument. Gefragt sind bei der Grafologie Erfahrung, Intuition, Interpretation», sagt Pierpaoli. Das ­widerspreche dem Zeitgeist – die heute akzeptierten psychologischen Tests seien rational, streng analytisch und standardisiert.

Auch Grafologe Erich Speck aus Zollikon hat mitverfolgt, wie «die Bedeutung der Grafologie abgenommen hat». In den 70er-Jahren hätten namhafte Psychologieprofessoren die umfassende Ausbildung zum Grafologen als wertvoll erachtet. Nun heisse es: Ein Schrift­gutachten sei nichts anderes als eine sinnlose, subjektive Projektion.

Es gibt Bemühungen, die Grafo­logie zu rationalisieren. Computerprogramme wurden entwickelt, um die Analyse einer Schrift zu quantifizieren, etwa in Bezug auf Grösse oder Richtung, «doch so verkommt Grafologie natürlich zum Kaffeesatzlesen», sagt Speck. «Handschriftmerkmale sind meistens mehrdeutig. Die Analyse einer Schrift erfordert Erfahrung und kombinatorisches Flair. Die Dynamik einer Person kann aber nicht quantifiziert werden.»

ZHAW-Studiengang gestrichen

In jüngster Zeit haben sich öffent­liche Hochschulen von der Grafologie abgewendet. Bis 2013 bot die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Zusammenarbeit mit der SGG einen Grundlagenkurs über drei Semester in Schriftpsychologie an. Dieses Angebot wurde zugunsten des psychodiagnostischen Rorschachtests gestrichen.

Die SGG bietet ihre Grundausbildung nun zusammen mit dem privaten Institut für angewandte Psychologie (IAP) in Basel an. Doch ECTS-Punkte gibt es für die Studierenden nicht mehr zu holen. Und so ist das Interesse gering: Das aktuelle Grundstudium, das am 18. April begonnen hat, absolvieren sechs Teilnehmer.

Eine der Absolventinnen, sie möchte nicht mit Namen genannt werden, ist 48-jährig und von der Materie seit langem fasziniert – zwei Gutachten, die über sie verfasst wurden, hätten «voll ins Schwarze getroffen». Sie erhoffe sich unter anderem, dank grafologischem Know-how die Menschen in ihrem Umfeld besser einschätzen zu können. «Ob ich die Grafologie je beruflich anwenden werde, weiss ich nicht.» Damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wäre ein harter Weg. «Frisch ausgebildete Grafologen haben es auf dem Markt extrem schwer», sagt Pierpaoli.

Eine rund vierjährige Grafologie-Ausbildung bietet die Schule Verband Deutschsprachiger Graphologen an. Laut Vorstandspräsidentin Andrea Klauser «nehmen die Anmeldungen für die Ausbildung seit zehn Jahren tendenziell ab». Beide Experten, Klauser und Pierpaoli, be­tonen, dass die Ausbildung viel Durchhaltevermögen voraussetze.

Laut Pierpaoli sind arrivierte Schriftpsychologen allerdings nach wie vor gut beschäftigt. «Es gibt grosse Schweizer Unternehmen, die bis heute regelmässig mit Grafologen zusammenarbeiten.» Nennen will sie aber keine.

Der Zolliker Grafologe Erich Speck, der auch für «mittelgrosse Banken» tätig war, spürt den Rückgang selber nicht. Er schätzt, dass in der Schweiz heute bei der Besetzung des mittleren Kaders in 15 bis 20 Prozent der Fälle grafolo­gische Gutachten beigezogen würden. Laut einer Umfrage von «HR Today», dem Schweizer Human-Resources-Management-Journal, holten im Jahr 2006 16,5 Prozent der Schweizer Unternehmen solche Gutachten ein.

Versteckte Analysen

Laut Speck wird auch inoffiziell mit Schriftanalysen gearbeitet. Es komme vor, dass Personalchefs mit einer Handschrift vorbeikämen mit der Bitte um eine Analyse. Solche Fälle verstossen ­allerdings gegen das Datenschutzgesetz. Grafologische Gutachten sind nur mit dem Einverständnis des Betroffenen ­erlaubt. Wer als (potenzieller) Arbeitnehmer einwilligt, hat Recht auf Einsicht in das Gutachten.

Wenn die Grafologie heute im Kader-Recruiting eingesetzt wird, dann hauptsächlich zur Kontrolle, als ein Instrument unter anderen. «Kommen die verschiedenen Tests zum gleichen Schluss, verringert sich das Risiko einer Fehl­besetzung», erklärt Speck. Um eine ­Kontrolle gehe es auch in der Berufs­beratung. Jemand glaubt, diese oder jene Begabung zu haben – die Analyse des Schriftbilds kann das bestätigen oder eben nicht.

Instrument im Dritten Reich

Wie unterschiedlich seriös die Grafologie wahrgenommen wird, zeigt auch ein Blick ins Ausland. In Frankreich, wo die moderne Grafologie im 19. Jahrhundert begründet wurde, ist das Verfahren ­anerkannter. In Deutschland dagegen dominiert bis heute ein negativer Beigeschmack, weil im Dritten Reich militärische Führungskräfte mithilfe von Grafologen rekrutiert wurden.

Die Schweizerische Graphologische Gesellschaft, die im November ihr 65-Jahr-Jubiläum feiert, plant unterdessen, die Statuten zu erweitern. Neben der Förderung der wissenschaftlichen Schriftpsychologie sollen auch die Pflege und die Verteidigung der Handschrift als Kulturgut anerkannt werden.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 27.04.2015, 07:06 Uhr)

Leave a Reply