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Ja, Intelligenz ist erblich! Ein neues Buch versachlicht die Debatte um Thilo Sarrazin wohltuend.

Die «Kronzeugen» der Intelligenzforschung: Eineiige Zwillinge wie die Schwestern Leah (links) und Sarah Majeski aus dem US-Bundesstaat Georgia.

Die «Kronzeugen» der Intelligenzforschung: Eineiige Zwillinge wie die Schwestern Leah (links) und Sarah Majeski aus dem US-Bundesstaat Georgia.
Bild: Reuters

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich?, Rowohlt Reinbek, ISBN 978-3-498-07667-2, 316 Seiten, 31.90 Franken.

Ist Intelligenz erblich?

CHF

31.90
Buch | Gebunden, Leinen

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  • Thilo Sarrazin 

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Schuld ist Thilo Sarrazin. Genauer: die Reaktion der deutschen SPD auf sein Buch «Deutschland schafft sich ab». Sie diskutierte die Thesen nicht, prüfte sie nicht auf ihre Stichhaltigkeit, sondern rückte den Autor in die Nähe des Rassismus. So sah sich Dieter E. Zimmer genötigt, eine Frage wieder aufzugreifen, die er längst für erledigt hielt: die Frage, ob Intelligenz erblich sei. Zimmer, lange Jahre Feuilletonchef der «Zeit», danach Wissenschaftsjournalist und Autor zahlreicher Bücher über psychologische, medizinische und sprachliche Themen («Tiefenschwindel», seine Kritik an der Psychoanalyse, wurde breit rezipiert), kennt alle einschlägigen Studien und deren eindeutiges Ergebnis: Ja, Intelligenz ist erblich, zu etwa 75 Prozent.

In Politik und Medien, vor allem in Deutschland, aber auch in der Schweiz, war diese Erkenntnis allerdings nicht angekommen. Dort stand jeder, der an der universellen Erziehbarkeit des Menschen oder an der Abiturfähigkeit jedes Kindergartenkindes zweifelte, schnell im Verdacht des «Biologismus» und an der Grenze zum Rassismus. Thilo Sarrazin hatte an dieser Grenze herumprovoziert – mit seiner Verbindung von Integrationsproblemen, Bevölkerungspolitik und Genetik. Die Heftigkeit und Hitzigkeit der Debatte, wohl aber auch die mangelnde Sachkenntnis der Wortführer veranlassten Dieter E. Zimmer zu der nun vorliegenden «Klarstellung», so der Untertitel seines Buchs.

Die Minnesota-Studie

Sie ist im Ergebnis wenig spektakulär – das wissenschaftlich Erwiesene wird noch einmal machtvoll bekräftigt. Sie ist aber dennoch äusserst lesenswert: solide, faktengestützt, vollkommen unideologisch und für jeden, der sich mit dem Komplex «Intelligenz und Vererbung» befassen will, unverzichtbar. Schon deshalb, weil die Forschung zu dem Thema weitgehend ausserhalb des deutschen Sprachraums stattgefunden hat und internationale Studien kaum übersetzt werden. Zimmers Buch ist daher doppelt wertvoll: Er fasst 100 Jahre Forschung zusammen und ermöglicht es auch dem interessierten Laien, sich ein Bild des komplexen Stoffes zu machen.

«Die individuellen Unterschiede in der abstrakt-analytischen Intelligenz sind überwiegend erbbedingt»: Das sei «so gesichert, wie etwas nur gesichert sein kann» – zuletzt durch eine Taskforce der amerikanischen Psychologenvereinigung, welche die gesamte Forschung noch einmal auf Triftigkeit und Schwachstellen abklopfte. Das Ergebnis beruht auf Fakten, auf Empirie; wer sich dem verweigert, ist für Zimmer ein Ideologe (oder ein Feuilletonist).

Die Frage nach dem Wesen der Intelligenz

Kronzeuge der Forschung ist eine ungemein wertvolle, weil seltene Spezies: monozygote (eineiige) Zwillinge, die getrennt voneinander aufgewachsen sind. Das «Minnesota Twin Project» hat eine umfangreiche Datenbank über sie (und sehr viele andere Zwillinge, auch zweieiige) angelegt und ausgewertet. Darunter sind verblüffende Beispiele wie etwa die Jim Twins, die vier Wochen nach der Geburt von verschiedenen Familien adoptiert wurden und sich nach 39 Jahren zufällig fanden. «Beide waren Kettenraucher und rauchten ‹Salem›. Beide tranken am liebsten Bier der Marke ‹Miller’s Lite›. Beide fuhren einen Chevrolet. Beide hatten zweimal geheiratet. Beider erste Frauen hatten Linda geheissen, beider zweite Frauen hiessen Betty. Beide hatten einen Sohn; der eine hiess James Allan, der andere James Alan. Beide arbeiteten nebenher als Hilfssheriffs. Beide hatten einen grossen Hobbyraum, auf dem Rasen vor dem Haus einen Baum und um den Baum eine weisse Bank.» Wichtiger als diese kuriosen Übereinstimmungen ist, dass hier der Zufall der Forschung eine perfekte Versuchsanordnung spendiert hat, um Umwelt- von Vererbungseinflüssen zu unterscheiden. Aus dem Studium ergibt sich der (auch anderweitig bestätigte) Erblichkeitsfaktor von 75 Prozent.

Weil die Erblichkeitsfrage geklärt ist, lässt sich der Autor breiter über das Wesen der Intelligenz selbst aus. Auch die gemessene Intelligenz, der Intelligenzquotient (IQ), hat in der öffentlichen Meinung Hochs und Tiefs erlebt, nicht jedoch in der Wissenschaft. Immerhin gibt es solche Messungen seit 100 Jahren, und ihre «prognostische Kraft», also die Tatsache, dass ihre Ergebnisse sich etwa durch Schulerfolge bestätigen, ist durch kein vergleichbares Instrument zu übertreffen. Was Intelligenz ist – nämlich abstraktes Denken und Schlussfolgern, Problemlösungsfähigkeit und die Fähigkeit zum Wissenserwerb –, darüber hat die Psychologie seit langem klare Vorstellungen, und darüber, wie sie sich testen und messen lässt, ebenfalls.

Der Rechtsanwalt und sein Durchschnitts-IQ

Natürlich ist der IQ nichts real Existierendes, sondern ein statistisches Konstrukt, das es erlaubt, grosse Mengen von Messungen auf einer Skala so anzuordnen, dass der Durchschnitt bei 100 liegt und zwischen 50 (Schwachsinn) und 150 (Genialität) eine Gausssche Glockenkurve verläuft, bei der nahe dem Durchschnitt die meisten, an den Extremen die seltensten Fälle auftreten.

Ja, Zimmer nimmt es genau; wer ihm folgen will, der muss sich mit Begriffen wie «Korrelation» oder «Standardabweichung» vertraut machen (sie sind im Anhang gut erklärt). Er legt Wert darauf, dass statistische Methoden eben auch statistische Ergebnisse zeitigen und keine Aussagen über Individuen. «Ein Satz wie ‹Die Erblichkeit deines IQ beträgt 75 Prozent› wäre so unsinnig wie ‹Meine Durchschnittsgrösse beträgt 1,82 Meter›.» Das muss man immer mitdenken, wenn man liest, was Statistiken über den Durchschnitts-IQ von Rechtsanwälten (120) oder Lagerarbeitern (94) herausgefunden haben, oder gar die ominösen Länder-IQ: Der von Ostasiaten liegt bei 105 bis 108 Punkten, von Schweizern bei 101, von Deutschen zwei Punkte niedriger, von Griechen bei 92 und von Türken bei 90 Punkten. (Dass in den 60er-Jahren bei Amerikas Schwarzen mehrfach der Durchschnitts-IQ um 15 Prozent niedriger ausfiel als bei der weissen Bevölkerung, brachte die ganze Intelligenzmesserei in Misskredit. Neuere Untersuchungen zeigen, dass sich die Werte einander annähern.)

«Getunte» Intelligenz

Durchschnitt – das bedeutet auch: Es gibt eine beträchtliche Spanne. In einer Studie lag sie bei untersuchten Medizinern zwischen 98 und 135, bei Mechanikern zwischen 83 und 125, und auch Landarbeiter erzielten zum Teil Werte über 120. Dasselbe gilt für Nationalitäten und Populationen. Zimmer: «Jeder Mensch muss sich damit abfinden, dass die Gruppen, denen er nolens volens angehört, nicht immer und überall die Besten stellen. Kein Deutscher leidet darunter, dass Hongkongs Durchschnitt im IQ neun Punkte höher liegt.»

Zumal Erblichkeit nicht fatalistisch hingenommen werden muss und der IQ auch keine unveränderbare Grösse ist. Darauf insistiert Zimmer, und das müsste all jene versöhnen, denen sein absoluter Empirismus und Rationalismus unheimlich ist. Ja, der IQ verändert sich. Er nimmt im Alter ab (genauer: bestimmte Teilfähigkeiten wie Rechenfertigkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit stark, Sprachkompetenz kaum), und er kann in jungen Jahren durch die richtigen Einflüsse «getunt» werden. Zimmer belegt dies unter anderem mit drei französischen Adoptionsstudien, bei denen «hochadoptierte» Kinder in der höheren Sozialschicht ihren IQ um 10 bis 15 Punkten steigern konnten.

«Gene geben ein Potenzial vor, das im Wechselspiel mit der konkreten Umwelt ausgeschöpft, aber auch verschleudert werden kann.» Von dem 75-Prozent-Vererbungsanteil bei der Intelligenz überzeugt sein heisst ja nicht, den Einzelnen seinem genetischen Erbe einfach zu überlassen. Sondern: aus ihm das Beste herauszuholen. Wenn 25 Prozent der «verbleibende Spielraum» sind, wie Zimmer es nennt, dann ist das, politisch gesehen, sehr viel.

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 12.04.2012, 08:11 Uhr

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