Eine perfekte Inszenierung

In diesem Sommer war ich für einige Zeit in Kuba. Ein bewohntes Museum besichtigen, bevor die tatsächlich noch lebendigen Dinosaurier (nicht nur Fidel Castro, sondern auch, wie ich gelernt habe, die nicht totzukriegende Legende Che Guevara) endgültig verschwinden.

Es gibt dort zwei Autobahnen im ganzen Land, eine von Havanna nach Osten, eine nach Westen. Autos gibt es nicht besonders viele; Kuba stellt praktisch nichts selber her, also erst recht keine Autos. Und die so romantisch wirkenden Amischlitten – ich sage nur: Buena Vista Social Club – zerfallen langsam; etwas anderes Fahrbares ist nicht da, nicht mal ein Moped. Daher sind die Menschen oft zu Fuß und mit Pferdewagen unterwegs, selbst auf der Autobahn.

Als Tourist im Mietwagen fährt man durch unfassbare Schlaglöcher, man flucht und verfährt sich. Irgendwann verzweifelt man. In dieser Situation – man ist gerade zum wiederholten Mal von der eigentlichen Bahn abgefahren und wieder in einer von noch viel krasseren Schlaglöchern zerfressenen Nebenstraße gestrandet – fällt der Blick auf ein Wandgemälde mit dem kubanischen Standardspruch „Socialismo o Muerte“, der hier nur noch tödlich selbstironisch wirkt.

Plötzlich hält ein Auto neben uns. Der Fahrer macht Handzeichen, wir sollen stehenbleiben. In Kolumbien würde man nun um sein Leben bangen, in Kuba muss man keine Befürchtungen haben: Der Sozialismus bestraft seine Sünder so hart, weswegen niemand, trotz der wirklich unübersehbaren Armut, einem die Handtasche vom Arm reißt oder Kokain verticken will. Das hat Fidels Bruder Raul, der ja ein sehr unbeliebter Militär ist, ziemlich im Griff.

Das Paar, das uns nun gestoppt hat, spricht überraschend gut Englisch, man hat uns als Touristen erkannt; wir haben uns doch bestimmt verfahren, man will helfen. Das scheinen zwei rettende Engel zu sein! Der Mann war tatsächlich schon mal in Frankfurt, die Frau muss nachher noch zur Arbeit auf den Flughafen, aber nun hilft man uns gern – rasch wird eine unübersehbar lange Liste mit Wegstrecken und Abbiegungen notiert, puh klingt das kompliziert! Das sieht auch der hilfsbereite Mann ein, da hilft nur eins – seine Frau fährt bei uns mit und hilft lotsen, das ist doch kein Problem. Toll! Irgendwie merkwürdig, dass wir dann doch noch mal durch die ganze Stadt zurückfahren müssen, um schließlich wieder auf der Autobahn zu landen, von der wir doch eben erst abgefahren sind. Aber die Gespräche über Fidel Castro (guter Mann), Raul (schlechter Mann) und Che (absoluter Held! Auch noch nach 54 Jahren!) lenken ab.

Eines ist von Anfang an klar – die freundliche Helferin will kein Geld. Aber sie nimmt gerne mein Angebot an, ihr später das Taxi zum Flughafen zu bezahlen. Um die Sache abzukürzen: Am Ende präsentiert sie eine am Taschenrechner ermittelte Vorauszahlung für das Taxi von 196 Euro. In Kuba! Fürs Taxi! Wo der Monatsverdienst für knallharte Arbeit in der Zigarettenfabrik 45 Euro beträgt. Richtig zusammengereimt habe ich mir die Nummer erst, nachdem mein Angebot, die Lady selbst zur Arbeit zu fahren, beleidigt abgelehnt wurde und die von mir schließlich, ich gestehe es, gezahlten 40 Euro zu einem wütenden Abgang geführt hatten. Na klar, ging es mir durch den Kopf, der Kollege stand schon mit seinem Auto um die Ecke parat und holte die Frau ab.

Irgendwie rechnet man nicht damit, dass diese Bauernfängerei mit so viel Einsatz, Vorausschau und Psychologie geplant und betrieben wird. Eine perfekte Inszenierung. Meine wütende Tochter habe ich damit zu beruhigen versucht, dass man diese rohe Form von Kapitalismus auch für etwas anderes als nur Betrug ansehen könnte: nämlich als Kunstwerk. Wir hatten unser Geld gerade für eine sehr spezielle Theatervorstellung ausgegeben! Eine Form der Performance, wie sie jetzt aus der zeitgenössischen freien Szene kommt und allmählich auch am Stadttheater immer gefragter ist: Theater nur für einen oder zwei Zuschauer, die allein durch ihr Zuschauen irgendwie Teil der Sache sind und unweigerlich in eine Mitspieler-Rolle geraten.

Solche Formen des vermeintlich Authentischen sind absolut hip und prima festwochentauglich. Wir kennen das sogar von der aktuellen Documenta: Zuschauer, die per Kopfhörer durch eine Fußgängerzone (oder in diesem Fall den Kasseler Hauptbahnhof) geschickt werden und sich frisch verkabelt fragen dürfen, ob das, was sie nach langem Schlangestehen zu sehen kriegen, eine glänzend unauffällig inszenierte Show ist – oder vielleicht doch nur das ganz normale Leben.
So muss ich auch heute noch an meine kubanische Beifahrerin und die Lehre in Sachen Spiel und Wirklichkeit denken. Wäre die Handynummer auf ihrem selbst geschriebenen Kärtchen korrekt, würde ich sie sofort zu einem Gastspiel nach Frankfurt einladen. Europapremiere. Feuilletonpräsenz garantiert. Also, für diese Erfahrung war die Show absolut ihr Geld wert. Socialismo o Muerte!

Oliver Reese ist Intendant des Schauspiels Frankfurt.

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