Eiertanz der Forscher um künstliche Spermien

Ein Durchbruch, eine Forschungssensation? Oder eher eine leere Behauptung? Forscher sind skeptisch. Viele wollen sich gar nicht erst dazu äussern, andere wählen deutliche Worte. Ein unschönes Beispiel sei dies, sagt etwa Stefan Schlatt, Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster. «Ich sage nicht, dass es Unsinn ist, doch sehe ich keinerlei Belege dafür, dass es tatsächlich geklappt hat.»

Die Kritik richtet sich gegen französische Forscher, die unlängst bekannt gaben, dass sie erstmals ein menschliches Spermium im Reagenzglas hergestellt hätten. Dem Team um Philippe Durand von der Firma Kallistem soll es gelungen sein, in vitro die sogenannte Spermatogenese nachzuahmen, den komplexen Reifungsprozess männlicher Keimzellen. Dafür verwendeten sie in mindestens einem Fall Vorläuferzellen aus dem Hoden eines Transsexuellen, der durch die Geschlechtsumwandlung unfruchtbar geworden war. Laut den Forschern seien die Zellen dadurch in einem ähnlichen Grundzustand gewesen wie bei Kindern vor der Pubertät.

Doch statt die aufsehenerregenden Resultate in einem Fachjournal zu veröffentlichen, haben die Wissenschaftler ihr Verfahren patentieren lassen und anschliessend via Medienmitteilung auf ihren Erfolg aufmerksam gemacht. Forscherkollegen ärgern sich über dieses Vorgehen. «Der Anspruch der Forscher ist riesig, ohne dass sie irgendwelche Daten präsentieren», sagt Schlatt. Er bezweifelt auch, dass die Abbildung, welche die Forscher bis jetzt veröffentlicht haben, tatsächlich ein Spermium zeigt, wie sie behaupten. Für den Reproduktionsmediziner ist es verwunderlich, dass sich selbst angesehene Forschungseinrichtungen dafür hergeben, insbesondere das Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS), mit dem Philippe Durand und seine Mitstreiter verbunden sind.

Spermien von Frauen

Es handelt sich bei weitem nicht um das einzige urheberrechtlich geschützte Verfahren auf dem Gebiet der künstlichen Spermien. «Viele lassen vorsorglich ihre Entwicklungen patentieren, weil sie ein grosses Geschäft wittern», sagt Schlatt. Zu Recht, denn bei Erfolg könnte praktisch jede Form von männlicher Unfruchtbarkeit umgangen werden. Mithilfe von Stammzellen könnten dereinst sogar Frauen Spermien von sich machen lassen. Auch Veterinäre wären sehr an verschiedenen Anwendungen interessiert, um die Züchtung von Nutztieren weiter zu optimieren, so Schlatt. Ähnliches gilt auch für die Herstellung künstlicher Eizellen, bei der es Forschern noch nicht gelungen ist, den vollständigen Prozess beim Menschen im Reagenzglas zu imitieren. Doch es winkt eben nicht nur viel Geld, auch der Totalabsturz ist gefährlich nahe. «Es wäre eine Katastrophe, wenn ein behindertes Kind aufgrund eines unausgereiften Verfahrens zur Welt käme», so Schlatt.

Philippe Durand kontert auf Anfrage die Vorwürfe. Die Experimente hätten noch nicht veröffentlicht werden können, weil sonst eine Patentierung nicht möglich gewesen wäre. Sein Team sei nun aber dabei, eine Fachpublikation einzureichen. Der Zeitpunkt einer Veröffentlichung hänge vom Herausgeber der Zeitschrift und den Gutachtern ab. Auch die Kritik an der Abbildung lässt Durand nicht gelten. Es handle sich tatsächlich um eines der künstlich hergestellten Spermien. Die Präparate für die mikroskopische Untersuchung seien aus technischen Gründen jedoch nicht optimal. Bessere Bilder habe er für die Fachpublikation zurückgehalten.

Das patentierte Verfahren der Franzosen verwendet als entscheidende Besonderheit zwei Millimeter breite Röhrchen aus Chitosan, einem Polymer, das in Pilzen vorkommt. Diese Strukturen funktionieren als kleine Bioreaktoren, welche helfen, die Verhältnisse in den Hoden zu imitieren. Die Technik haben die Kallistem-Forscher mit Spermien von Mäusen, Affen und Ende 2014 das erste Mal mit solchen eines Menschen getestet. Inzwischen hat es laut Durand bei fünf verschiedenen Personen funktioniert. Die künstlichen Spermien würden dabei äusserlich gleich aussehen wie natürliche. Nun wollen die Forscher bei Ratten untersuchen, ob sich mit künstlichen Spermien auch gesunde Jungtiere zeugen lassen. Wann das erste Menschenkind auf diese Weise zur Welt kommt, kann Durand nicht sagen. Das hänge in erster Linie von den Regulationsbehörden ab.

«Weltweit experimentieren viele Arbeitsgruppen mit verschiedenen Arten einer solchen dreidimensionalen Matrix», sagt Schlatt. Davor arbeiteten Forscher im Wesentlichen in einfachen Kulturschalen. Dabei gelang es ihnen, die Vorläuferzellen, wie sie bereits im Kindesalter im Hoden angelegt sind, zu vermehren. Auch die zweistufige Reifeteilung (Meiose), die für die Produktion von Keimzellen notwendig ist, konnten sie induzieren. Doch die letzten Schritte zum funktionsfähigen Spermium gelangen erst mit der Verwendung komplexerer räumlicher Strukturen. 2011 berichteten japanische Forscher, dass sie von Mäusen erstmals künstliche Spermien eines Säugetiers herstellen konnten. Seither gelang dies verschiedenen anderen Forschungsgruppen. Doch von Mäusen zu Menschen ist es nochmals ein grosser Schritt. Bei den Nagern dauert die Spermienreifung 30 Tage, beim Menschen ist sie mehr als doppelt so lange. «Das ist ein sehr langer Prozess, der viele Phasen umfasst», so Schlatt.

Gefrorenes Hodengewebe

Doch auch wenn sich die Ankündigung der französischen Forscher als voreilig herausstellen sollte: Künstlich hergestellte Spermien von Menschen sind keine Utopie. «Wir sind auf gutem Weg», sagt Schlatt. Er glaubt, dass dies in vier bis fünf Jahren möglich sein wird. Schon seit ein paar Jahren haben spezialisierte Zentren deshalb Verfahren etabliert, um Hodengewebe tiefzugefrieren. Mediziner empfehlen dies insbesondere bei Kindern, die sich vor der Pubertät einer Krebstherapie unterziehen müssen, die ihre Fruchtbarkeit gefährdet. Künstlich gereifte Spermien könnten ihnen dann als Erwachsene ermöglichen, sich trotzdem fortzupflanzen.

Diese Gruppe krebskranker Kinder ist denn auch die Hauptzielgruppe, für welche die künstlichen Samenzellen entwickelt werden sollen. Auch bei Kallistem. Dort geht man von zurzeit 15'000 Be­troffenen weltweit aus. Hinzu sollen 120'000 unfruchtbare Männer kommen, die von heutigen Techniken nicht profitieren können.

Sollte die künstliche Spermatogenese tatsächlich gelingen, gälte es die heikelsten Hürden allerdings erst noch zu überwinden. Forscher müssten unter den künstlichen Samenzellen diejenigen identifizieren, die zu gesunden Kindern führen. Schäden, insbesondere genetische, oder auch epigenetische Veränderungen dürften nicht weitergegeben werden. «Das wäre letztlich ein Eingriff in die Keimbahn, der an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird», so Schlatt. Auch deshalb fordert er die französischen Forscher dazu auf, masszuhalten: «Das Forschungsfeld ist zu gefährlich für Unausgegorenes.»

(DerBund.ch/Newsnet)

(Erstellt: 22.10.2015, 20:30 Uhr)

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