Die Vermessung unserer Gefühle

Stellen Sie sich einen Helm vor, der Wünsche errät. Wenn Sie etwa nicht wissen, wohin es in die Ferien gehen soll, sagt er Ihnen, für welche Destination Ihr Herz heimlich schlägt. Dazu misst er mittels Elektroden Ihre Hirnaktivität und erkennt so, bei welchem Reisevideo Sie emotional am stärksten reagieren. Ein Messgerät also, das durch die Er­fassung des eigenen Gemütszustands bei Entscheidungen hilft. Auch Armbänder, die eine Erregung durch erhöhte Schweissabsonderung auf der Haut registrieren, geben Aufschluss über unsere Gefühlswelt.

Dies sind nur zwei Beispiele einer Reihe von tragbaren Geräten, die nicht länger nur die eigene Laufleistung oder den Schlaf im Alltag messen, sondern zunehmend auch Gefühle – einen Teil unserer Persönlichkeit, der lange Zeit als diffus und schon gar als nicht quantifizierbar galt. Dass Emotionen durchaus messbar sind, das wissen und nutzen die Wissenschaftler des Schweizer Forschungszentrums für Affektive Wissenschaften an der Universität Genf. Es ist weltweit das erste Zentrum, das sich ausschliesslich der interdisziplinären Erforschung von Emotionen und deren Auswirkungen auf das menschliche ­Verhalten widmet.

Emotionsmessung mit Grenzen

«Gefühle sind essenziell für unser Überleben», weiss Marcello Mortillaro, Psychologe und Leiter der Angewandten Emotionsforschung in Genf. Ständig werden bei der Bewertung unserer Umgebung Emotionen hervorgerufen. Treffen wir auf eine unbekannte Situation, stimulieren die aufwallenden Gefühle physiologische Reaktionen im Körper und bereiten auf eine passende Ver­haltensreaktion vor. Gleichzeitig sind wir in der Lage, die Situation weiter gründlich zu bewerten, anstatt automatisiert zu handeln. Emotionen sind daher eine fortschrittliche evolutionäre Anpassung.

Am Zentrum für Affektive Wissenschaften wird fast die gesamte Bandbreite an Methoden zur Messung von Emotionen genutzt, von Sensoren, die die Hautleitfähigkeit messen, bis hin zur Gesichtserkennungssoftware (siehe ­Kasten). Eine stärkere Schweissabsonderung, eine höhere Aktivität bestimmter Hirnregionen oder weit geöffnete ­Augen, all dies sind Faktoren, die auf eine Gefühlsregung hinweisen.

Mortillaro weiss aber auch um die Grenzen der Emotionsmessung: «Wir können relativ einfach eine emotionale Reaktion erfassen, wir wissen damit aber noch längst nicht, um was für eine Emotion es sich handelt.» So kann mit den meisten Methoden nicht zwischen verschiedenen Gefühlsregungen wie Mitgefühl, Freude, Aufregung oder Aversion unterschieden werden. Im obigen Beispiel könnte man also auch eine starke Abneigung gegen Strand und Meer haben, der Helm würde die emotionale Reaktion wahrscheinlich dennoch als Präferenz für das Reiseziel werten. Vor allem der Kontext ermöglicht uns eine Einordnung der empfundenen Emotion. Und eben dieser Umstand macht Gefühlsmessungen im Alltag so schwierig.

Der Kontext ist entscheidend

Besonders deutlich wird dies beim Einsatz von Gesichtserkennungssoftware, an der auch die Wissenschaftler um Mortillaro intensiv forschen. Mittels Kamera und Computer werden Gefühlsregungen im Gesicht einer Versuchsperson, die sich Bilder oder Videos anschaut, in Echtzeit untersucht. «Für zuverlässige Beurteilungen von Gesichtsausdrücken ist jedoch unbedingt der Kontext nötig», macht Mortillaro klar. So geschehe ein Lächeln nicht immer aus Freude. Manchmal lächeln wir auch aus Scham, aus Höflichkeit oder sogar aus Missgunst. So ist es mit den heutigen Methoden nahezu unmöglich, die Gefühle von Menschen im Alltag zuverlässig zu bestimmen.

«Ich glaube nicht, dass wir in Zukunft über eine Technologie verfügen werden, mit der man Emotionen in jeder beliebigen Situation erfassen und unterscheiden kann.» Zu komplex sind die Vorgänge, die an der Auslösung und der Expression von Gefühlen beteiligt sind. Selbst Trauer, Freude, Wut, Ekel und Überraschung – die fünf universellen Gesichtsausdrücke, die bereits gut durch Software erkannt werden können – ­zeigen wir im Alltag eben nicht stereotypisch und deutlich. Sie sind variabler, überlagern sich oder werden subtiler gezeigt. So ist man am Genfer Zentrum dazu übergegangen, einzelne Gesichtsbewegungen grundsätzlicheren Erregungszuständen zuzuordnen – wie etwa weit geöffnete Augen als Zeichen, dass Neues wahrgenommen wird.

Smarte Autos und Therapien

Doch auch wenn Emotionen nur partiell und eher undifferenziert erfasst werden können, sieht Mortillaro darin grosses Anwendungspotenzial – etwa beim Autofahren. Kameras und Hautsensoren können eine Gefühlserregung hier bereits zuverlässig bestimmen. Aufgrund des bekannten Kontexts kann bei einer solchen Messung auf Aufregung oder Wut geschlossen und besänftigende Musik eingespielt werden. Mortillaro ist überzeugt: «Diese Art von intelligenten Biofeedback-Systemen wird eine wichtige Rolle spielen.» Auch die soziale Interaktion liesse sich verbessern, wenn etwa Gesprächspartner durch Sensoren und in Echtzeit die jeweilige emotionale Reaktion des Gegenübers verfolgten, glaubt der Psychologe. Unüberlegte Äusserungen könnten in Zukunft sofort von einer Entschuldigung begleitet werden.

Das Herzstück im Emotionslabor des Genfer Zentrums aber ist ein virtueller Raum, in den sogar Gerüche eingeleitet werden können. Emotionen und virtuelle Realitäten sind das Arbeitsgebiet der Arbeitsgruppe von Daphne Bavelier, zu der auch der Neurowissenschaftler Swann Pichon gehört. Die Wissenschaftler können mithilfe des virtuellen Raums verschiedene Alltagssituationen simulieren, in denen die Emotionen der Versuchspersonen durch Befragung, Hautsensoren und Kameras erfasst werden. So wird etwa der Kontext einer Gefühls­erregung verändert.

Auf den Geruch von Socken zum Beispiel reagieren viele, wenn als Käsegeruch präsentiert, sehr viel weniger mit Ekel. «Phobien könnten behandelt werden, indem das Angstobjekt virtuell in einen anderen Zusammenhang gestellt wird», erklärt Pichon. Im besten Fall verschwinden nach und nach auch die Ängste in der Realität.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 01.05.2015, 21:55 Uhr)

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