"Die Ursache für solche Wahnsinnstaten liegt nicht im Internet"

Amoklauf? Da denkt derzeit fast jeder an Norwegen, Anders Breivik und die 77 Menschen, die er auf dem Gewissen hat. An krude Verschwörungstheorien eines Hasardeurs gegen alles Islamische und die Selbstdarstellung vor Gericht. Robert Steinhäuser, Bastian Bosse und Tim Kretschmer konnte der Prozess nicht mehr gemacht werden. Sie richteten sich selbst.

Und doch stehen ihre Namen ebenso für Leid, Hass, Tod. Ihre Morde an deutschen Schulen beherrschten 2002, 2006 und 2009 die Schlagzeilen, als noch niemand eine Insel namens Utoya kannte, sondern die Schauplätze des Grauens Erfurt, Emsdetten und Winnenden hießen. Als Plattform zur Selbstinszenierung diente das World Wide Web.

Alles Amokläufe? Nein, sagt Sabine Jörk. "Der Begriff trifft es nicht, denn die Taten waren teilweise von sehr langer Hand geplant, der Ort - die Schule - bewusst gewählt.

Deswegen passt eher der amerikanische Begriff ,School Shooting'." Die Münchnerin hat sich in ihrer Tätigkeit als Kommunikationswissenschaftlerin und Expertin für angewandte Medienforschung seit Jahren mit den Massakern in den drei deutschen Städten befasst - und in dem Zusammenhang vor allem mit der medialen Selbstinszenierung der jugendlichen Täter. Jörk war am Samstag eine der Moderatorinnen der Tagung "Möderische Phantasien", mit der die Tutzinger Akademie für politische Bildung in Kooperation mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung von Medienkompetenz fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Erfurt die Selbstinszenierung der Täter untersuchte.

Dass deren Tun nicht aus dem Nichts heraus entsteht, sondern finaler Schrecken ist einer mehr oder minder langen (gefühlten) persönlichen Leidenszeit, beweist unter anderem das englischsprachige Abschiedsvideo, in dem sich Bastian, der Täter von Emsdetten, in der martialischen Aufmachung des schwarz gekleideten Rächers zeigt. Er porträtiert sich als Verstoßener einer Gesellschaft, einer, der es allen nun heimzahlt. Er sieht sich als Gott-ähnlich; erhebt sich über jene, die ihn vorher erniedrigten, die ihn bespuckten, traten und beleidigten, mit glühenden Gegenständen malträtierten.

Sabine Jörk hat sich gerade mit dem medialen Abschied Bastians intensiv auseinandergesetzt. "Seine Präsenz in diesem Video passt eigentlich so gar nicht zu dem unterdrückten Jungen. Aber auch das ist typisch: In dieser ihrer Welt abseits der realen strahlen Menschen wie Bastian Überlegenheit aus. Aus ihm spricht blanker Hass, der sich über Monate und Jahre anstaute. Und das Netz bietet ihm die Plattform, diesen Hass kundzutun. Das ist gefährlich, weil es Nährboden für Nachahmer sein kann. Es stellt aber auch zwingend die Frage: Hätte man nicht früher erkennen müssen, wohin die Reise bei einem wie Bastian geht?"

Die Suche nach der adäquaten Prävention solcher Taten löste im Nachgang der Analyse nicht selten den altbekannten Reflex bei Politikern aus: Her mit Verboten von "Killervideospielen", von Musik, in deren Texten Gewalt verherrlichet wird, von Jugend gefährdenden Filmen und Einträgen im Internet. Für die Münchner Medienwissenschaftlerin greift dieser Automatismus zu kurz: "Die Ursache liegt nicht im Internet, sie liegt in den sozialen Bedingungen. Da läuft schon vorher ein Prozess ab, der nur irgendwann in etwas für uns Unvorstellbarem kulminiert."

Insofern verdrehe ein Verweis auf das Internet als Grundlage solcher Attentate Ursache und Wirkung, sagt Jörk:

"Wer will, kann sich Anregungen beispielsweise über die nötige Bewaffnung auch aus Büchern holen. Dazu braucht er das Internet nicht. Das Surfen auf einschlägigen Websites darf nicht als Auslöser für die verheerenden Taten verstanden werden." Die Täter informierten sich im Internet zwar über andere Amokläufe, aber das sei nicht das auslösende Moment. "Dass sie ihren eigenen Plan verfolgen, steht da längst fest. Das haben alle drei deutschen Attentäter gezeigt."

Jörk weist daraufhin, dass in der wissenschaftlichen Debatte das Massaker von 1999 an der Columbine Highschool (USA) als eine Art Blaupause gesehen wird.

Unter anderem rekurrierte auch der finnische Massenmörder Matti Juhani Saari, der 2008 in seiner Berufsschule in Kaujahoki zehn Menschen umbrachte, auf Eric Harris, einen der beiden Columbine-Täter. Bisweilen wusste das Umfeld Saaris sogar von dieser Bewunderung. Die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat aber keiner, jedenfalls nicht rechtzeitig.

Wann aber ist dieser Moment? "Es gibt im Vorfeld viele kleine Bausteine. Wenn sich Jugendliche oder junge Erwachsene verstärkt in einschlägigen Internetforen oder ihrem Umfeld in Mails oder per Twitter Andeutungen über gewalttätige Vorhaben machen - dann ist Eile geboten", sagt Sabine Jörk. Dieses "Leaking", also so etwas wie das Durchsickern von Einzelheiten einer Tatfantasie, die sich irgendwann zu einem grausamen Ganzen fügen, sei ein wichtiger Ansatzpunkt bei der Verhütung. "Das können sehr direkte Anspielungen sein, dass bald ,etwas Schlimmes' geschieht. Es kann sich aber auch indirekt durch Verhaltensauffälligkeiten zeigen, etwa wenn ein Mitschüler die Kleidung wechselt, plötzlich Tarnfarben trägt oder sich ungewöhnlich stark für Waffen und ihre besondere Wirkung interessiert."

Bei den Verbrechen in Erfurt und Emsdetten konnten die Täter noch nicht auf Facebook, aber auf einschlägige Foren zugreifen.

Doch mittlerweile müsse auch dieses Riesennetzwerk als Recherchepool gesehen werden, als Kanal, auf dem potenzielle Rächer an die Öffentlichkeit gehen. "Es wäre schon eine große Hilfe, wenn die Betreiber solcher Plattformen im Netz sich bei derlei Anzeichen an entsprechende Behörden oder Fachleute wie Psychologen wenden würden. Diese könnten sicher besser erkennen, ob es sich nur um dumme Späße handelt oder womöglich doch ein ernst zu nehmendes Gefährdungspotenzial vorliegt", ist Sabine Jörk überzeugt. Bastian aus Emsdetten hatte schon zweieinhalb Jahre zuvor in einem Internetforum sein Vorhaben angekündigt und sogar um psychologische Hilfe gebeten. Doch die Expertin weiß auch: Einfach wird das nicht. Und das liegt nicht nur an den vielen Verästelungen im System. "Die Betreiber solcher Foren, aber auch viele Nutzer lassen offen durchblicken, dass sie geschulte Helfer nicht als kompetent anerkennen."

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