Die Schere im Kopf

Die Medien der Versinnlichung großer Gefühle sind das Theater, die Oper und der Film. An der sprachlichen Vergegenwärtigung der Leidenschaften arbeitet die Literatur. Die Analyse der Gefühle wird seit Platon von der Philosophie besorgt. Diese hat durch Psychologie, Soziologie, Kulturgeschichte und die Neurowissenschaften allerdings ihre Lufthoheit über das zerklüftete Gelände der Passionen verloren. Daneben gab es Einrichtungen zur Zähmung und Ordnung, notfalls der Bestrafung der Leidenschaften: die Familie, die Erziehung, die Moral, die Schule, das Militär, das Recht, die Religion. Man kann sich also viele Kontexte denken, in denen die Leidenschaften dargestellt oder diskutiert werden: Aber kann das Museum überhaupt das Format sein, um Leidenschaften spürbar zu machen und zu analysieren? So etwas hat es noch nicht gegeben.

Die Idee der Kuratorin Catherine Nichols im Deutschen Hygiene-Museum Dresden war es, die Leidenschaften in einem fünfaktigen Drama vor Augen zu bringen - darum die Mitwirkung von der Opernregisseurin Mariame Clément und der Bühnenbildnerin Julia Hansen. Ein Drama ohne Akteure? Leidenschaften ohne Menschen, in denen sie sich verkörpern? Es ist ein fast paradoxes, ein unmögliches und mutiges Unternehmen: Es sind die Dinge der Ausstellung, die das theatrale Ensemble der Leidenschaften bilden.

Die Dinge sind Batterien und Agenten von Affekten, die dadurch verdinglicht werden, ohne doch entfremdet zu sein. Wir durchwandern Assemblagen und Netzwerke von Objekten, profanen Alltagsgegenständen und Kunstwerken, von sakralen Gegenständen und Fetischen, medizinischen Geräten und Pharmaka, ausgestopften Tieren und Messinstrumenten, Spielautomaten und Devotionalien, Puppen und Moulagen. Wir erblicken Sammeltassen und Abortstühle, einen Kasten mit Duellwaffen und Musikinstrumente, biologische Modelle und skurrile Objekte aus dem Schatzkästchen der Souvenirs und Erinnerungen, der Ermahnung und Besinnung; wir sehen eine Schublade voll Präservative und Antibabypillen und aus Scheren gefertigte Spinnen des Künstlers Christopher Locke.

Wir erblicken aber auch Möbel, immer wieder Möbel, Bildschirme, die in Elektroherde oder Microwaves montiert sind, unscharfe Super-8-Projektionen aus dem Familienarchiv und Filmszenen aus der Traumfabrik Hollywood, Fragmente aus TV-Übertragungen, die tief im Kollektivgedächtnis verankert sind wie die Trauerzeremonie für Lady Di, der Kopfstoß von Zinédine Zidane oder die Maueröffnung 1989.

Wir greifen zu Kopfhörern und hören: "Stabat Mater" von Pergolesi, das verzweifelte Schreien eines Babys, das "Toooor" zum 3:2 im WM-Endspiel 1954, Zitate über Empathie von Philosophen und Neurowissenschaftlern, den Sermon "We have no free will" der grotesken Püppchen des Künstlers Tony Oursler. Zählt man die Dinge in dieser Weise auf, so begegnet uns in den 450 Ausstellungsobjekten ein verwirrendes Chaos, das unser Interesse am Verstehen der Leidenschaften eher enttäuscht als aufklärt.


So aber ist es nicht. In den fünf Akten durchlaufen wir die typische Gliederung eines Dramas, von der Exposition über den Konflikt zum Höhepunkt (Peripetie), der die Wendung einleitet und in eine Auflösung mündet. Die Theatralisierung der Ausstellung wird am Anfang und Ende durch zwei fast leere Räume gerahmt, deren Ausstattung an klassische Theater erinnern: eine fiktive Garderobe, rote Tapeten, goldene Spiegel, samtene Vorhänge, durch die hindurch man die Ausstellungsräume erst erreicht.

Das Entree ist der leere Raum der Erwartung. Der Raum am Ende ist ein Ort der Besinnung. Dessen Leere kann vom Besucher mit Reflexionen und Fantasien angefüllt werden. Er ist ein gefangener Raum, in welchem man schnell bemerkt, dass man - in Sachen der Leidenschaft - selbst Gefangener und Befangener ist. Man kann den Raum nur verlassen, indem man den dramaturgischen Spannungsbogen rückwärts noch einmal durchläuft. Sprich: Man muss die Ausstellung zweimal sehen.

Anders als der verwirrende Anschein der Objekte es vermuten lässt, können wir uns einer durchaus strengen Choreografie überlassen. Die unsichtbare Führung bekommt zusätzlichen Halt durch einen genialen Einfall der Kuratorinnen: In jedem der fünf Akte wiederholt sich die Möblierung einer kleinbürgerlichen Familie, die ihre Wohnung aus den Serienfabrikaten eines Billig-Einrichtungshauses zusammengestellt hat: Wohnzimmer, Schlafraum, Esszimmer, Bad und Küche. Die Zimmer werden zu räumlichen Themenzentren, die Möbel werden höchst einfallsreich in Postamente, Vitrinen, Schaukästen, Medienträger verwandelt. Das Interieur kleinbürgerlichen Wohnens wird von den Phantasmagorien der Leidenschaften invadiert und heimgesucht, ja, es wird von Akt zu Akt verwandelt. Bilden die Zimmer zu Beginn das stabile Bühnenbild, um Orte für die "Exposition" psychologischer Fragestellungen nach Entstehung, Bezeichnung, Wirkung, Verortung und Verkörperung der Passionen zu bilden, so wird im zweiten Akt "Konflikt" der Boden teilweise um 22 Prozent angehoben, sodass nicht nur die Möbel wie nach einem Beben völlig verrutscht sind, sondern auch der Besucher um Gleichgewicht kämpft. Leidenschaften destabilisieren.

Im dritten Akt "Höhepunkt" werden die Affekte der Liebe und Begierde, des Neides und Zorns, der Angst und der Scham, des Ekels und Hasses, der Trauer und Freude sowie des Staunens in ihren ebenso zerstörerischen wie steigernden Pathosformen thematisiert: Hier sind, wie von einer wilden Kraft, die Zimmer durcheinandergewirbelt, die Möbel zerstört, während aus ihren Einzelteilen sich neue Assemblagen auftürmen. Sie werden zu Trägern jener Objekte, Bilder und Stimmen, welche die Ausdrucksgebärden der entfesselten Leidenschaften sind.

Die Akte entfalten eine Fülle an Ansichten und Einsichten, Assoziationen und Deutungen, Vergegenwärtigungen und Überraschungen, die jede finale Ruhigstellung unserer selbst dementiert. Das Krokodil, das gleich eingangs über dem bürgerlichen Esstisch hängt und in allen Akten verwandelt wiederkehrt, ist vielleicht ein Emblem für das ebenso phantasmagorische wie reale Bestiarium, das auch wir Aufgeklärten in uns tragen.

Durch alle Akte ziehen sich Texte, Erläuterungen, Bücher - eine den gelben Reclam-Bänden nachgebildete (fiktive) DHMD-Reihe von Klassikern der Deutung unserer Leidenschaften, von Platon bis Darwin und darüber hinaus. Das ist für den flüchtigen Besucher zu viel. Die Ausstellung verlangt einen frei assoziierenden wie angestrengt denkenden Kopf. Dieser allerdings wird herrlich an- und aufgeregt: Wir sind das Lebewesen, also das Tier, das von gewaltigen Trieb- und Affektmächten hingerissen wird, im Guten wie im Bösen. Wir sind dies, und wir können es wissen und reflektieren. Das zeigen die ebenso komplizierten wie gewitzten Assemblagen in einer Dichte, wie wir sie selten haben sehen, empfinden und denken können.

Am Ende bleiben wir skeptisch: Die Kultur, welche die Leidenschaften zu kontrollieren verspricht, ist dieselbe Kultur, welche die Barbarei entfesselt hat, abgründiger und grauenhafter, als je ein Lebewesen der Natur leidenschaftlich und barbarisch sein kann. So bleibt das schöne Versprechen der humanisierenden Empathie - "verteufelt human".

Deutsches Hygiene-Museum Dresden. Bis 30. Dezember.

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