Die Psychologie des Elfmeterschießens

Brasiliens Torhüter Julio Cesar hat das alles bereits durchgemacht: Die Anspannung, das gute Zureden der Teamkameraden, die schlauen Tipps der Trainer und Betreuer, die ihm verrieten, wer wohin schießen würde. Dann der Gang in den sprichwörtlichen Tunnel, das Fokussieren auf den nächsten Schützen, das Duell Eins-gegen-Eins und die Hoffnung auf die richtige Reaktion, die richtige Ecke. Dank zweier parierter Elfmeter war Cesar im
Achtelfinale der Brasilianer gegen Chile der gefeierte Held. Deutschlands Keeper Manuel Neuer fehlt diese Erfahrung noch, zumindest im Trikot der Nationalmannschaft. Aber in der Champions League hat Neuer für Bayern München in der Saison 2011/12 zweimal ein Elfmeterschießen erlebt. Einmal ging es gut aus (Halbfinale gegen Real Madrid) einmal nicht (Finale gegen den FC Chelsea). Nun könnte es im WM-Halbfinale wieder dazu kommen, doch Neuer ist gut gerüstet, allein schon deshalb, weil er diesmal das deutsche Trikot trägt.

Elfmeter-Nation Deutschland

"Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer jagen dem Ball für 90 Minuten hinterher, und am Ende gewinnt immer Deutschland", so hat Englands Torjäger Gary Lineker einst seine Enttäuschung nach dem Halbfinal-Aus bei der WM 1990 auf den Punkt gebracht. England hatte gegen Deutschland verloren - im Elfmeterschießen. Deutschland ist eine Elfmeter-Nation. "Das hat überhaupt nichts mit den fußballerischen Qualitäten der einzelnen Spieler zu tun, sondern allein mit der Psychologie, sagt Sportwissenschaftler Daniel Memmert von der Deutschen Sporthochschule Köln. Alles eine Sache der Ausstrahlung: "Wenn man dem Torwart als Elfmeterschütze mit breiter Brust gegenübersteht, bekommt der Torwart das Gefühl: Oh, der will treffen, das ist ein guter Schütze, den werde ich wahrscheinlich nicht halten."


Muss sich Manuel Neuer gegen Brasilien im Elfmeterschießen beweisen?

Die Deutschen - das hat eine Studie zum Thema Körpersprache festgestellt - geben sich viel selbstsicherer als beispielsweise die Engländer, die seit Kindesbeinen in den Köpfen noch die historischen Elfmeter-Niederlagen verankert haben. Der Gang zum Elfmeterpunkt sei da schon vorentscheidend. "Wenn man eher mit eingezogenen Schultern und gebückt daher kommt, dann assoziieren das die Torhüter mit Schwäche und haben eher das Gefühl, dass sie den Ball halten können."

Elfmeterschießen kann man trainieren

Die Sportwissenschaft liebt das Szenario Elfmeterschießen, dort kann man viele Dinge untersuchen und daraus seine Schlüsse ziehen. Einer davon ist, dass man Elfmeterschießen durchaus trainieren kann, sagt Memmert. "Tatsächlich ist es allein von Bedeutung, wie der Ball auf den Punkt gelegt wird." Wer den Ball hinlegt, sich dann vom Torhüter wegdreht, um zu seiner Startposition zu laufen und dann gleich schießt, habe eine geringere Wahrscheinlichkeit den Elfmeter zu treffen. "Das sind zwei Punkte, die dem Torhüter und sich selbst anzeigen, dass man alles dafür tut, um möglichst schnell aus dieser belastenden Situation herauszukommen." Sinnvoller sei es, diesen Druck auszuhalten und seinem Gegenüber, dem Torwart zu signalisieren: Ich stehe in dieser Situation, ich komme damit klar. Das ist mein Elfmeter, ich werde den verwandeln und ich kann mir dazu auch eine gewisse Zeit lassen.

Der Zettel im Stutzen von Jens Lehmann

Torhüter haben beim Elfmeterschießen eigentlich nichts zu verlieren, denn statistisch gesehen gibt es nur eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass der Elfmeter nicht verwandelt wird. Dennoch kann auch ein Torwart diese Situation trainieren, den Schützen unbewusst oder bewusst beeinflussen und ihm eine Ecke "anbieten". Eine Möglichkeit sei, dass er sich nicht ganz in die Mitte des Tores stellt, sondern sich ein bisschen zu einer Seite hin verschiebt - nicht mehr als zehn Zentimeter. "Das bewirkt, dass der Schütze das gar nicht erkennt. Der denkt weiterhin, dass der Torwart in der Mitte steht, obwohl er das physikalisch nicht tut. Aber im Unterbewusstsein merkt der Schütze, dass tatsächlich auf der einen Seite ein wenig mehr Platz ist. Und in 80 Prozent der Fälle schießt er tatsächlich in das physikalisch größere Eck."


Jens Lehmann und der legendäre Spickzettel bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland

Derselbe Effekt kann entstehen, wenn Torhüter den Arm zu einer Seite ausstrecken und den Schützen dazu animieren, in die andere Ecke zu schießen. Auch das Tänzeln auf der Linie ist ein beliebter Trick: Der Schütze wird dazu verleitet, in die Nähe des sich bewegenden Ziels zu schießen. Statistiker können zudem Daten liefern, welcher Schütze welche Ecke bevorzugt. Jens Lehmann demonstrierte seinen argentinischen Gegnern im WM-Viertelfinale 2006 dieses Wissen, indem er einen Zettel aus dem Stutzen zog, auf dem vermeintliche Elfmeterstatistiken vermerkt waren. Lehmann hielt zwei Elfmeter, der Spickzettel ist seitdem ein Museumsstück im Haus der Geschichte in Bonn.

So schießt man den perfekten Elfmeter

Ein perfekter Elfmeter wird hart nach oben links oder rechts in die Ecke geschossen, resümiert Memmert. So ist er so gut wie unhaltbar, die Wahrscheinlichkeit eines Tores ist maximal. Legt man den Ball selbstbewusst auf den Punkt, geht dann rückwärts zur Startposition und blickt dem Torwart dabei fest in die Augen, kann fast nichts mehr schief gehen. Es sei denn, Julio Cesar oder Manuel Neuer haben etwas dagegen...

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