Die Psychologie der Montagsdemonstrationen: Sammelsurium des Schreckens

Wer sich in den vergangenen Wochen einmal montags durch deutsche Großstädte bewegt hat, dem werden sie womöglich aufgefallen sein. Eher überschaubare, bunte Gruppen von Demonstranten, die Parolen rufen und Pappschilder hochhalten auf denen Dinge stehen wie „Wir sind das Volk“, „Für Frieden mit Russland“ oder „Gegen die Todespolitik der Federal Reserve Bank“. Leute, die deutsche und russische Fahnen schwenken und dabei womöglich die „Internationale“ singen, und denen, wie in der Presse mehrfach süffisant bemerkt wurde, Aluhüte als Markenzeichen des wahnsinnigen Gesellschaftskritikers besonders gut stehen. Die Rede ist natürlich von den Montagsdemonstranten, die im Zuge der Ukraine-Krise wieder an Zulauf gewinnen.

Systemverdrossener Zeitgeist

Dabei sind die neuen Montagsdemonstranten ein eher ungewöhnlicher Haufen. Mag es auch unglaublich anmaßend gewesen sein, für Demonstrationen gegen Hartz IV den Begriff der Montagsdemos von DDR-Bürgerrechtlern zu entlehnen, so waren die sozialpolitischen Ziele dieser Montagsdemos zumindest gedanklich nachvollziehbar und politisch wohl verhandelbar. Auch die Occupy-Bewegung knüpfte noch, trotz manchmal kruden Demokratieverständnisses und in Extremfällen antisemitischen Tendenzen an in aller Regel reale politische Problemstellungen und insbesondere in der Jugend verbreitete Schwierigkeiten und Ängste an.

Das scheint bei den neuen Montagsdemonstranten nicht mehr gegeben. Menschen, die im alltäglichen Flugverkehr eine perfide Chemtrail-Verschwörung sehen, stehen Seit an Seit mit linken Altstalinisten und rechten Reichsbürgern, die die BRD nicht anerkennen. Der wegen Holocaust-Verharmlosung vom RBB entlassene Ken Jebsen und der arrivierte Querfrontstratege Jürgen Elsässer peitschen das Publikum ein, und eine sich betont überparteilich gebende Meute, die sich die „neue Friedensbewegung“ nennt, jubelt. Doch was nach einem eher grotesk-gruseligen Karneval der Extreme klingt, sollte nicht aufgrund des noch geringen Zuspruchs als irrelevant abgetan werden. Auf den Montagsdemos finden rechte und linke Feinde der offenen Gesellschaft, Russland-Freunde und Antisemiten sowie antiamerikanische Verschwörungstheoretiker zusammen. Die Montagsdemonstrationen sind ein durchaus ernst zu nehmender Ausdruck eines zunehmend systemverdrossenen und europaskeptischen Zeitgeists.

Komplexes menschliches Verhalten lässt sich nur unter Berücksichtigung der Motivationen Affiliation (menschlicher Nähe), Bestimmtheit und Kompetenz beschreiben. Diese sind für weitergehende gesellschaftspolitische Analysen von großer Wichtigkeit. Die seit Langem anhaltende Währungskrise in der Euro-Zone und die damit einhergehende Unsicherheit, was die Zukunft bringen wird, stellen das Bedürfnis zahlreicher Menschen nach Bestimmtheit auf eine schwere Probe. Werde ich morgen, übermorgen noch ein ausreichendes Einkommen haben? Gibt es für mich Planungssicherheit? Kann ich vielleicht nie eine Familie gründen? Fragen, die sich vorangegangene Generationen seltener stellten, sind für die heutige stets auf der Tagesordnung. Naheliegend, dass man in einer solchen Situation danach strebt, die Umstände, die das Leben unsicherer machen, oder es wenigstens so erscheinen lassen, erklären zu können.

Wie man Sündenböcke findet

An dieses Bedürfnis docken die Verschwörungsfantasien eines Ken Jebsen etwa zusehends erfolgreich an (KenFM auf YouTube hat über 50.000 Follower). Zu diesem Zweck werden kaum bestreitbaren Fakten, etwa der Tatsache, dass Putin natürlich „kein lupenreiner Demokrat“ sei, oder der realen Problematik, die die kapitalgesellschaftlichen Verflechtungen der relevantesten deutschen Medien für die vierte Gewalt mit sich bringt, populäre Relativierungen à la „ein lupenreiner Demokrat ist Obama auch nicht“ und populistische Verschwörungstheorien wie „die CIA hatte schon bei der Gründung des Springer-Verlages die Hände im Spiel“, untergemischt. So kann sich aus dem bunten Potpourri der Paranoia jeder seine extremen und gemäßigten Positionen herauspicken, und verteidigt, wenn er sagt „irgendwo hat Ken Jebsen schon recht“, immer gleich auch das große wahnsinnige Ganze.

Verschiedene Studien zeigen, dass Antisemitismus und Antiamerikanismus in der deutschen Gesellschaft verbreitet sind. Die Bewunderung für den starken Mann Wladimir Putin, die in den Kommentarspalten der großen Onlinezeitungen überwältigend zum Ausdruck kommt, sollte ebenfalls Anlass zur Sorge sein. Eine Umfrage in Österreich hat zuletzt ergeben, dass sich etwa ein Drittel aller Österreicher einen starken Führer wünschen, der auf das Parlament keine Rücksicht nehmen muss. Für Deutschland sind durchaus ähnliche Ergebnisse denkbar. Und gerade im Falle der Ukraine-Krise war wieder einmal zu beobachten, wie Politik und Medien, deren dezidiert prowestliche Positionierung zu begrüßen ist, Propaganda durch einseitige und undifferenzierte, manchmal sogar plump falsche Berichterstattung Vorschub leisteten.

Ganz falsch und kurzsichtig wäre es darum, die Montagsdemonstranten als ultralinke und -rechte Spinner, oder einfach als moderne Querfront zu qualifizieren, wie es etwa die linke Wochenzeitung „Jungle World“ in ihrer dennoch durchaus in vielem treffenden Kritik vergangene Woche getan hat (auch der Abriss zu historischen deutschen Querfronten ist lesenswert!). Die Montagsdemonstrationen sind vielmehr der im Moment in Deutschland vielleicht radikalste Ausdruck eines unglücklichen Bewusstseins, das danach strebt, die komplexen Zusammenhänge der modernen Welt begreifbar zu machen und sich gleichzeitig aller Verantwortung für diese zu entledigen. Im Gegensatz zu einer systematischen Kritik politischer Verhältnisse zeichnet sich verschwörungstheoretisches Denken dadurch aus, dass es ermöglicht, die Verantwortung für Missstände und das eigene glücklose Leben auf leicht identifizierbare Strukturen und Personengruppen zu übertragen. Wo die CIA, die Federal Reserve, und eine „amerikanische Kanzlerin Merkel“ die Strippen ziehen, erscheint der Einzelne machtlos, für persönliche Fehlentscheidungen muss er ebensowenig Verantwortung übernehmen wie für Entwicklungen der Politik, die er doch selbst gewählt oder als Nichtwähler ignoriert hat. Man sucht und man findet Sündenböcke.

Wahlkampf gegen Sinti und Roma

Gleichzeitig aber schwelgt der Verschwörungstheoretiker im subjektiven Eindruck totaler Macht: Nur er, bzw. seine Mitstreiter durchblicken die Welt, haben die absolute Wahrheit gepachtet. Das verschwörungstheoretische Denken, das auf den Montagsdemonstrationen immer wieder zum Ausdruck kommt, befriedigt so die Bedürfnisse nach Bestimmtheit und Kompetenz einer immer größer werdenden Gruppe von Menschen. Neben den klassischen linken und nationalistischen Verdächtigen fühlen sich hier etwa auch Basismitglieder der Alternative für Deutschland, die Jürgen Elsässer hofieren, der seinerseits eine Wahlempfehlung für die AfD ausgab, zu Hause.

Ken Jebsen ist dabei vielleicht der ideale Repräsentant der Bewegung. Solide ausgebildet, nicht auf den Mund gefallen, durchaus fähig, in Deutschland seinen Weg zu machen. Aber als Vertreter der Generation „irgendwas mit Medien“ auch „prekär“ beschäftigt und voll Hass auf die, die es besser haben als er selbst. Das nämlich unterscheidet die Protestbewegungen der letzten Jahre von denen vergangener Zeit. Ging es bei früheren Demonstrationen für gewöhnlich entweder um die Interessen bestimmter Personengruppen (Arbeitnehmer, Studenten usw.) oder um politische Ereignisse und Entscheidungen (Vietnamkrieg, NATO-Beschluss, Irakkrieg), geht es heute zuallererst darum, diffuse Ängste zu kanalisieren. Und Angst ist ein schlechter Ratgeber im Politischen. Darum fällt es den Montagsdemonstranten trotz einiger Versuche auch so schwer, sich von den verrücktesten Teilnehmern abzugrenzen. Angst und die fehlgeleitete Sehnsucht nach Bestimmtheit und Kompetenz einen die Demonstranten, die sonst ganz unterschiedliche Hintergründe und Interessen haben.

Und das wiederum haben die Montagsdemonstranten mit den Wählerschaften rechter und populistischer Parteien bei den Europawahlen gemein. Auch diese Parteien knüpften an die Bedürfnisse nach Bestimmtheit und Kompetenz an, indem etwa die EU (EUdSSR) oder die USA (TTIPP) als übermächtige Feinde gezeichnet wurden, gegen die die wenigen aufrechten nationalen Kräfte ankämpfen. Das Bedürfnis nach Schuldverschiebung bediente auch der oft über Sozialneid, sei es gegen die Deutschen, die die EU beherrschten, sei es gegen „schmarotzende“ Sinti und Roma, geführte Wahlkampf etwa des Front National.

Zwischen Chemtrails und Marine Le Pen

Angesichts der teils beängstigenden Wahlerfolge von Parteien, die einen Zusammenbruch der Europäischen Union und Währung mit all ihren chaotischen Folgen anstreben, könnte man beinahe versucht sein, freudig zu registrieren, dass das deutsche Äquivalent zum FN derzeit aus ein paar Verschwörungstheoretikern mit Aluhüten besteht. Aber Jebsen, Elsässer Co. sind ebenso ein Symptom der derzeitigen Schwäche Europas wie die erfolgreichen Rechtsparteien. Es läuft in der Politik, europäisch wie national, vieles schief, und vor allem so sehr am Bürger vorbei, dass dieser in der Masse zusehends zu Extremen tendiert. Und während mittlerweile immerhin medial die Bedeutung des europäischen Rechtsrucks thematisiert wird, feierten Sozialisten und Konservative noch am Wochenende ihr Wahlergebnis, als sei nichts geschehen.

Die skurrilen Montagsdemos sind nur eine von vielen Warnungen:

Alle politischen Kräfte, die noch zu den Idealen von Freiheit, Weltoffenheit und Wohlstand, sowie zur europäischen Einheit stehen, hätten Sorge zu tragen, diese europäischen Ideen entschieden zu verteidigen. Eine Zukunft Europas, die sich zwischen Chemtrails und Marine Le Pen, zwischen FED-Bashing und Nigel Farage entfaltet: Das wäre nun wirklich eine veritable Horrorvision.


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