DIE PSYCHOFALLE

Von Zeit zu Zeit gerät die Psychologie und die sich als Heilkunde ausgebende klinische Psychiatrie in den Focus öffentlicher Kritik - auch in Deutschland: Zum Beispiel 2012/13 durch den “Fall” des Nürnberger Gustl Mollath, der jahrelang aufgrund von sogenannten Gutachten des Chefarztes der Forensischen Psychiatrie des Bezirksklinikums Bayreuth und Psychiatrieprofessorer der Berliner Charité wegen eines “paranoiden Gedankensystems” in psychiatrischen Anstalten weggesperrt wurde.[1] 2009 gab der Kölner Psychiater, Psychotherapeut und katholische Theologe Manfred Lütz medienwirksam bekannt: “Wir behandeln die Falschen”[2] und versuchte die in Verruf gekommne Psychiatrie auch mithilfe des Habermas-Konzepts vom kommunikativen Handelns neu zu verorten. 1997 wurde bekannt, dass der Postbeamte und bereits als Hochstapler rechtskräftig verurteilte Gert Postel 1995 als Leitender Oberarzt im Fachkrankenhaus für Psychiatrie Zschadraß bei Leipzig tätig war und psychiatrische Gutachten für Gerichtsverfahren erstellt hatte.[3]

Diese drei Beispiele verdeutlichen: In der Psychiatrie werden unsinnige und willkürliche Diagnosen gestellt; auch dadurch wird es akademischen oder nichtakademischen Schwindlern jeglicher Couleur möglich, als Therapeuten aufzutreten. Und das wissen alle im psychiatrischen Milieu auftretenden Akteure.

In seinem neuen Buch “Die Psychofalle” beschreibt der Journalist Jörg Blech in achtzehn Kapitel Mechanismen und Methoden, mit denen die aus Psychologen, Psychiater, Therapeuten und selbsternannten Coaches im Verbund mit der Pharmaindustrie gebildete “Seelenindustrie” mit “einer Flut immer neuer Diagnosen […] gewöhnliche Menschen in psychische Patienten verwandelt” (11), um ihr eigenes Prestige und Einkommen sowie Profite der Psychopharmaindustrie zu sichern und auszuweiten.

Eine zentrale Rolle in diesem Komplex schreibt der Autor der weltweit größten Psychiatrievereinigung, der American Psychiatric Association (APA) der USA zu. Sie gibt das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) heraus. Dort sind alle vermeintlichen oder tatsächlichen psychischen Krankheiten von 160 nicht legitimierten Männern und Frauen erarbeitet und klassifiziert. Dieses wie auch andere Klassifikationssysteme, etwa das der Weltgesundheitsorganisation (WHO), “beeinflussen die Marketingstrategien von pharmazeutischen Firmen, das Verschreibungsverhalten von Ärzten, die Ausgaben der Gesundheitssysteme, sie prägen die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit über psychische Störungen denkt.”(20). Die in den Klassifizierungssystemen erfassten psychischen Störungen wurden mit den Jahren soweit ausgeweitet, dass - rein rechnerisch gesehen - ”wir alle eine psychische Störung haben”(25).

Deshalb hält Blech äußerste Vorsicht bei psychischen Diagnosen für angebracht: die meisten angeblich psychischen Erkrankungen hätten “keine eindeutig biologische Basis”, erfassten nur individuelle Verhaltenssymptome und blendeten soziale wie Umweltfaktoren aus; und oft seien Patienten der Willkür von Nervenärzten ausgesetzt. Da diese nun im Verlaufe der Jahre immer mehr psychische Störungen diagnostiziert hätten, gehörten psychische Diagnosen “mittlerweile zu den häufigsten Gründen für Behandlungen im Krankenhaus”(52).

Dagegen argumentiert der Autor so: Tatsächlich hätten sich schwere seelische Erkrankungen nicht erhöht, sondern Diagnosen über Befindlichkeitsstörungen: “Psychiater und Psychologen können durch cleveres Explorien jeden Menschen binnen weniger Minuten eine psychische Störung anhängen - und auf diese Weise die Nachfrage praktisch selber steuern.”(57) Damit könnten sie ihr Einkommen erhöhen, auch mithilfe von Zuwendungen umsatzstarker (Psycho-) Pharmakonzerne; denen dienen sie als Berater und Redner wie etwa Peter Falkai, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München (und sein Vorgänger Hans-Jürgen Möller) oder Hans-Christoph Diener, Direktor der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Essen; damit hat Blech drei von mindestens 35 der 37 Klinikleiter für Psychiatrie an deutschen Universitätskliniken namentlich genannt, die nachweislich “auf ihrem Berufsweg finanzielle Zuwendungen von Pharmafirmen”(65) annahmen.

Weiters verweist Blech auf den psychiatrischen Grundtatbestand, dass allen “Klassifikationssystemen der Psychiatrie […] eine übergeordnete Theorie”(85) fehle und sie keinen Unterschied machen zwischen “der eigentlichen Krankheit und den Symptomen, in welchen sich die Krankheit äußern kann”(83). Um die Theorielosigkeit zu überspielen, würden Psychiater auf Ergebnisse der Molekularbiologie zurückgreifen, um so “ihrem Fach den Anstrich von Wissenschaftlichkeit zu geben”(86).

Tatsächlich seien jedoch viele (wenn nicht die meisten) der angeblichen psychiatrischen Krankheitssymptomen nur widersprüchliche menschliche Verhaltensweisen, die evolutionsbiologisch bedingt seien und unter anderen sozialen Bedingungen durchaus Sinn machten: “Die Verhaltensweisen von Menschen mit psychischen Diagnosen sind im Vergleich also nicht grundsätzlich anders, sondern sie sind nur intensiver, häufiger und weniger angemessen in der jeweiligen Situation.”(85) Das gilt beispielsweise für die sogenannte “Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung” (ADHS) bei Schulkindern, das “abgeschwächte Psychosyndrom” (ADS) bei Pubertierenden, das Burnout-Syndrom im Arbeitsleben wie auch für Stimmungsschwankungen und Befindlichkeitsstörungen im Zusammenhang mit Menstruationszyklen, den Übergang ins Klimakterium und altersbedingte Demenzerscheinungen.

Gegen diese und weitere angebliche psychische Auffälligkeiten und Leiden werden Psychopharmaka oder Hormonprodukte entwickelt, propagiert, ärztlich verordnet und von Patienten eingenommen als Arzneien und Mittel, die letztlich mehr schaden als nützen und die die diagnostischen Symptome eher verstärken oder auch erst hervorrufen würden.

Als praktikable Alternative zur Medikamentalisierung und Pharmaziesierung verweist Blech auf bekannte Methoden und bewährte Mittel, die mit der anthropologisch-biologischen Grundausstattung von Menschen vereinbar sind: körperlich und geistig sinnvolle Betätigung(en) zum Abbau depressiver Stimmungslagen, Stärkung der humanen Persönlichkeit, Geselligkeit und soziale Kontakte gegen krank machende oder noxisch wirkende Vereinsamung(en), Meditation als Gelassenheitsübung und zur Überwindung seelischer Probleme.

Vor allem aber, so Jörg Blech, müssten die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert werden, die Alltagsschwierigkeiten hervorrufen: “Arbeitslosigkeit und andere gesellschaftliche Missstände dürfen wir nicht bei der Psychiatrie abladen. Wenn soziale Probleme wie Überlastung auf der Arbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Dumpinglöhne, schlechtes Betriebsklima, fehlende Zeit für die Familie, mangelnde Angebote für Kinder, schlechte Ausstattung der Schulen zur seelischen Erkrankung Einzelner erklärt werden, dann bleiben diese ungelöst. Am Ende ist das Individuum entmachtet. Es wird zum Patienten erklärt und kann keinen Protest mehr gegen jene gesellschaftlichen Zustände organisieren, die es krank gemacht haben. Wir müssen uns davor hüten, in die Psychiatriefalle zu tappen.”(263)

Dieser nicht umwerfend neuen (und auch schon schärfer formulierten[4]) “Diagnose” stimme ich ohne Einschränkung zu und halte dieses lesbar geschriebene Sachbuch mit seinen vielen anschaulichen Beispielen und seinem aufklärerischen Anspruch für empfehlenswert.


[1] Kritisch Richard Albrecht http://filmundbuch.wordpress.com/2013/06/14/die-affare-mollath-eine-film-und-buchvorstellung-von-richard-albrecht/ [und] https://filmundbuch.wordpress.com/2013/12/09/die-affare-mollath-ii-drei-rezensionen-von-richard-albrecht/
[2] Manfred Lütz: Irre! Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus, 2009; kritisch Wilma Ruth Albrecht http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/IRRE.pdf sowie in: Hintergrund, 24 (2011) I: 54-56
[3] Gerhard Maunz: Ein Gaukler, ein Artist; in: Der Spiegel, Nr. 29 vom 14.7.1997
[4] Thomas Szasz: Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens. München 1975; Gerhard Vinnai: Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft. Psychologie im Universitätsbetrieb. Frankfurt/Main; New York 1993; Wilma Ruth Albrecht: Psychologie ohne Logos; in: Aufklärung und Kritik, 16 (2009) 2: 245-257 [und] http://gkpn.de/Albrecht_Psychologie-ohne-Logos.pdf

Jörg Blech, Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag, 2014, 288 Seiten; ISBN 978-3-10-004419-8; 19.99 € (D), 20.60 € (A), 28.90 SFR (CH)

Wilma Ruth Albrecht ist Sozial- und Sprachwissenschaftlerin (Lic; Dr.rer.soc.) mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur-, Architektur- und Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Bildungsgeschichte/n (2006) – Harry Heine (2007) – Nachkriegsgeschichte/n (2008) – Pfalz Pfälzer. Lesebuch zum Pfälzer Volksaufstand 1849 (2014, i.E.) – Max Slevogt (1868-1932). Leben, Werk, Landschaft und Wirkung des Malers und Zeichners (2014, i.E.). Die Autorin arbeitet derzeit an ihrem Romanprojekt zum letzten ´kurzen´ Jahrhundert – EINFACH LEBEN ©Autorin (2014)

Gastbeitrag von Wilma Ruth Albrecht

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