Die Möglichkeit einer Insel

Die Fliegenfalle...

Auf die Frage, was er am meisten vermisst, wenn er auf Reisen ist, muss Fredrik Sjöberg nicht lange überlegen. „Mein Garten“, sagt er. „Meine Insel. Die Schwebfliegen.“ Es ist Frühsommer, die Zeit, in der alles grün wird in Südschweden, auch auf Runmarö, wo Sjöberg lebt, eine der Schären vor der Küste Stockholms.

Wer seine Heimat länger als nur ein paar Tage verlässt, kennt das Gefühl, das in dem Schriftsteller keimt, in Berlin, Hunderte Kilometer entfernt von seinem Zuhause. Heimweh macht sich an Winzigkeiten fest. An dem Vogelgezwitscher, das von draußen in die Wohnung dringt. Dem Duft nach Grashalmen von der nahen Wiese. Den Sonnenstrahlen, die morgens durch die Gardinen ins Schlafzimmer fallen. Es sind die kleinen Dinge, die in der Ferne fehlen. Dinge, denen die meisten Menschen in ihrer Alltagsroutine nur wenig Beachtung schenken. Sjöberg ist da anders. Wahrscheinlich verreist der 53-Jährige, der sich mit seinen Büchern einen Ruf als Meister der Miniaturen erarbeitet hat, deshalb so ungern: Für ihn ist das Kleine schon dann groß, wenn er es gar nicht missen muss.

Das fängt bei den Schwebfliegen an und hört bei den Menschen auf, die der Schwede ins Zentrum seiner Werke stellt. Er hat ein Archiv zu Hause, sagt er, eine Kartei „vergessener Menschen“. Personen, die einst Erstaunliches vollbracht haben, an die sich heute aber kaum noch jemand erinnert. Er findet sie auf Friedhöfen, in Bibliotheken, per Zufall, überall. „Bekannte Menschen begeistern mich nicht“, sagt er. Er identifiziert sich mit denen, die nicht beachtet werden. Der Erfolg gibt ihm Recht – auch Leser streben nach Identifikation. Und wer fühlt sich heute nicht wenigstens ab und zu ebenfalls vergessen, verloren?

Als Sjöberg 2004 in seiner Heimat „Die Fliegenfalle“ veröffentlichte, kalkulierte der Verleger mit fünf Jahren: Über diesen Zeitraum hoffte er, die gedruckten 1.700 Bücher verkaufen zu können. Keiner vermutete, dass die weit verzweigte Geschichte über René Malaise, den Erfinder einer Fangvorrichtung von Insekten, ein Erfolg werden würde. Heute sind allein in Schweden mehr als 30.000 Exemplare verkauft worden, sagt Sjöberg. „Das ist ein großer Erfolg für ein Buch über Schwebfliegen.“ Er hat einen Nerv getroffen bei den Lesern, eine Stimmung, die er sich selbst nicht recht erklären kann. „Vielleicht liegt es daran, dass wir in einer Welt leben, in der man fast alles zu jeder Zeit bekommen kann“, sagt er. „Only the Sky is the Limit.“ Fast alles ist möglich.

Was für die Einen Freiheit bedeutet, macht den Anderen Angst. Wo sich der Eine gefangen fühlt, blüht ein Anderer auf. „Ich mag es, meine Grenzen zu kennen“, sagt Sjöberg. Er bevorzugt die kleine Welt, jede Art von Insel. Ob es der Park ist, der von der tosenden Großstadt umschlossen ist, oder sein Zuhause, Runmarö, ein knapp 30 Quadratkilometer großes Stück Land mit etwa 300 Einwohnern inmitten von Wasser. Innerhalb dieser Grenzen fühlt er sich frei. Dort verspürt er die Muße, sich den kleinen Dingen zu widmen.

Das derzeit allseits so beliebte Konzept der „Achtsamkeit“, des bewussten Wahrnehmens, das Psychotherapeuten wie Pädagogen predigen, lebt der Autor intuitiv, ohne die üblichen Verweise auf die buddhistische oder sonst eine Philosophie. So etwas interessiert ihn nicht, sagt er. Er ist ein Sammler. Das reicht, um den Blick für die scheinbaren Nebensächlichkeiten des Lebens zu schärfen. Sammler sehen, was für andere unsichtbar ist. Sie bewahren, was Nicht-Sammler ohne Zögern verwerfen. Sie begreifen die Welt als ein großes Jagdrevier, durch das sie ihre Beute mit Ehrgeiz und Elan verfolgen.

Sjöberg, der einst Biologie studiert hat, vermutet uralte Triebe hinter dieser Leidenschaft, Überbleibsel aus der Steinzeit. Psychologen gehen von dem Bedürfnis des Einzelnen aus, die Unsicherheit in einem zunehmend unübersichtlichen Makrokosmos durch selbst geschaffene Mikrokosmen zu lindern. Die Dinge, die der Sammler sich untertan gemacht hat, kann er ordnen, wie es ihm passt. Er kann sie, sofern sie klein genug sind, mit sich tragen. Er hat die Kontrolle über sie, er ist Herrscher über Himmel und Erde in dieser, seiner überschaubaren Welt.

Bei Sjöberg hat die Vorliebe fürs Kleine wie bei vielen anderen Sammlern auch in der Kindheit begonnen. Als er fünf, sechs Jahre alt war, konzentrierte er sich auf Käfer und Schmetterlinge. Für den Heranwachsenden war seine Kollektion farbenfroher Falter auch eine Möglichkeit der Selbstdarstellung. Sammlerstücke schmücken ihre Besitzer nicht nur durch ihre Seltenheit. Häufig sehen sie auch noch verdammt gut aus.

Die Schwebfliegen, die Sjöberg später als Erwachsener zusammentrug, um in einem bewusst begrenzten, vielmissachteten Terrain Experte, „Bester“ zu werden, wie er sagt, wurden 2009 sogar zum Kunstobjekt erkoren, auf der Biennale in Venedig, als Teil der Ausstellung im Nordischen Pavillon – neben Gemälden, Büchern und Anderem, womit der sammelnde Mensch sich sonst noch so umgibt. Die „Psychologie der Selbstdarstellung durch physische, sichtbare Objekte“ wollte das kuratierende Künstler-Duo Elmgreen Dragset damit hinterfragen. Doch das Sammeln an sich hat auch einen eigenen Wert – wie jedes Hobby, das mit Konzentration betrieben wird.

Ob man sich mit Modell-Eisenbahnen beschäftigt, dem Gemüsegarten, der Porzellanmalerei oder mit Schwebfliegen: Beschäftigungen wie diese können den, der sie betreibt, in einen Zustand der Selbstvergessenheit versetzen, des „freudigen Aufgehens“ oder „Flow“, wie Psychologen es nennen. Wichtig ist der Selbstzweck des Tuns, sein Ablauf allein ist das Ziel, und dass sich die in der Situation wahrgenommenen Anforderungen mit den Fähigkeiten der handelnden Person decken, diese also keine Angst (bei Überforderung) oder Langeweile (bei Unterforderung) empfindet.

Sjöberg spricht vom Flow, wenn er ans Sammeln denkt. Er tauscht sich mit Gleichgesinnten aus, das ist ihm wichtig. Doch meistens ist er dabei für sich. Trotzdem Spaß zu haben, hat er durch sein Hobby gelernt, sagt er. Als er zwölf war, war er der Einzige, der nachts auf Mottenjagd ging. Heute ist das Alleinsein ein wichtiger Teil des Vergnügens. „Wenn ich Schwebfliegen jage, ist mir alles egal“, sagt Sjöberg. „Das ist für mich ein Land der Wunder.“ Es ist ein Reich ohne schwere Gedanken an Geld, Job, die Familie. Vielleicht sind es deshalb auch oft die kleinen Dinge, in die die Menschen sich versenken. Dinge, von denen sie als Kinder fasziniert waren, denen sie als kleine Personen noch näher waren als als welterfahrene Erwachsene.

Sjöberg braucht manchmal Jahre, bevor er anfängt aufzuschreiben, was er an Wissen über eine Person angehäuft hat. Erst ist da dieses Gespür, dann kommt die Jagd, und dann geht das „Puzzeln“ los, wie er es nennt. Dann fügt er die Teile zusammen, erst in Skizzen und später als Geschichte. Er liest sich jeden Satz laut vor, sagt er, bis alles wie Musik klingt. Harte Arbeit ist das. Sjöberg verlässt dafür Runmarö, sein Zuhause. „Die Fliegenfalle“ ist in einer kleinen Wohnung in Stockholm entstanden. Der Autor braucht diesen Abstand. Fürs Schreiben muss Sjöberg sich ganz in sich selbst versenken – und seine eigene Insel sein. (Von Eva-Maria Träger)

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