Die Macht der Autorität – KURSIV KLASSIKER: Stanley Milgram: "Das Milgram …

Sommer 1961, New Haven im Institut für Psychologie der Yale-Universität. Drei Männer betreten das elegant eingerichtete "Laboratorium für zwischenmenschliche Beziehungen". Man wolle im Rahmen einer Versuchsreihe eine psychologische Theorie überprüfen, nach der Bestrafungen den Lernerfolg bei Menschen steigern - erklärt der Sozialpsychologe Stanley Milgram.

Typische Versuchspersonen waren Schalterbeamte von der Post, Oberschullehrer, Vertreter, Ingenieure und Arbeiter. Das Bildungsniveau reichte von einem, der die Highschool nicht beendet hatte, bis zu Leuten mit Doktortiteln und anderen akademischen Auszeichnungen.

Civic-minded, brave Bürger von der Straße, hatte Milgram in Zeitungsanzeigen gesucht. Vier Dollar plus 50 Cent Fahrgeld bekamen sie für ihre Teilnahme an der Versuchsreihe, die allerdings mit Lernen und Bestrafen nichts zu tun hatte. Tatsächlich wollte Milgram eine ganz andere Frage beantworten: Was würden die Testteilnehmer alles tun, wenn ihnen eine autoritär auftretende Person den Befehl dazu gab? Dafür wurde ein "Schüler", der tatsächlich ein Schauspieler war, mit Elektroden verbunden - einem Elektrischen Stuhl durchaus ähnlich - während der "Lehrer" an einem Schreibtisch Platz nahm. Beide konnten einander nicht sehen, aber hören. Der Ablauf des Experimentes war denkbar einfach: Der Lehrer ließ den Schüler Wortpaare bilden; machte er Fehler, drückte er Knöpfe einer Apparatur und "bestrafte" den Schüler mit Stromstößen, die bei 15 Volt begannen und bei 450 Volt endeten. Hatte der Proband Angst, äußerte Zweifel oder wollte das Experiment gar beenden, spornte ihn ein weiß bekittelter Wissenschaftler mit folgenden Worten an:

Bitte fahren Sie fort!
Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!
Sie müssen unbedingt weitermachen!
Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!

Und die meisten machten weiter! Mehr als 60 Prozent der Versuchsteilnehmer verabreichten unter dem Eindruck des autoritär auftretenden Wissenschaftlers Stromstöße, die in der Realität tödlich gewesen wären - obwohl die vermeintlichen Schüler stöhnten, vor Schmerzen aufschrien und darum bettelten, der "Lehrer" möge den Versuch beenden. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Versuche erschienen 1962 in einer amerikanischen Fachzeitschrift, auf Deutsch wurde "Das Milgram-Experiment - Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten" erst 1974 publiziert. Das Buch ist im besten Sinne populärwissenschaftlich: Es ist leicht zu lesen und bietet jenseits einer detaillierten Beschreibung verschiedener Varianten des Versuchs, profunde Hintergrundinformationen über die Problematik des Phänomens "Be-fehl und Gehorsam". Welche individuellen, institutionellen und äußeren Bedingungen sind notwendig, damit eine bis dahin unbescholtene Person anderen Menschen schweren gesundheitlichen Schaden zufügt, nur weil eine vermeintliche Autorität dies verlangt? Wie kann eine Person allmählich in den Zustand geführt werden, in dem sie scheinbar frei von jedem Selbstzweifel Menschen tötet? Stanley Milgram selbst sah es als großes Problem an, wenn sich ein Mensch…

…vor der ihn leitenden Autorität verantwortlich fühlt, aber keinerlei Verantwortungsgefühle für die ihm von der Autorität vorgeschriebenen Handlungen hat. Die Sprache bietet zahlreiche Ausdrücke, um diese Art von Moral fest zu legen: Loyalität, Pflicht, Disziplin. Sie beziehen sich aber nicht auf die Gutheit der fraglichen Person selbst, sondern auf das Ausmaß, in dem eine untergeordnete Person eine ihr gesellschaftlich zugeteilte Rolle erfüllt.

Das Milgram-Experiment von 1961 zählt zu den bekanntesten wie umstrittensten sozialpsychologischen Experimenten. Umstritten ist es in der Methodik: Die Probanden seien nicht repräsentativ ausgewählt, außerdem hätten die Schauspieler teilweise schlecht gespielt. Kritisiert wurde zudem die Interpretation der Ergebnisse: Bis heute sind viele der Meinung, die Resultate spiegeln die Lust des Menschen wider, andere Menschen zu quälen. Dem widerspricht schon die Tatsache, dass viele Probanden nach dem Versuch für ihr restliches Leben traumatisiert waren. Trotzdem bleibt eine verstörende Erkenntnis: Unter bestimmten Bedingungen waren rund 60 Prozent der Probanden bereit, fremden Menschen schweren gesundheitlichen Schaden zuzufügen, wenn eine "Autorität" dies mit Nachdruck forderte.

Ein paar Änderungen in den Schlagzeilen der Zeitungen, die Einberufung zum Militär, Befehle von einem Mann mit Epauletten - und man bringt Menschen ohne große Schwierigkeiten dazu, zu töten.

Dieses Buch sollte jeder kritische Bürger und vor allem jeder Politiker lesen!

Stanley Milgram:
Das Milgram-Experiment - Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten. Rowohlt rororo, 256 Seiten, 8,99 Euro
ISBN: 978-3-449-917479-7

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