Die Leiden des Lokführers nach "Personenschaden"



Ein Lokführer der Deutschen Bahn bei seiner Arbeit. © picture alliance / dpa / Ingo Wagner


Als sich Robert Enke am 10. November 2009 das Leben nahm, war die Bestürzung über seinen frühen Tod gross. Mit der Trauerandacht in der Marktkirche in Hannover am folgenden Tag und dem anschliessenden Trauermarsch von rund 35.000 Menschen zeigte sich grosse Anteilnahme an Enkes Schicksal. Der Torwart der deutschen Nationalelf hatte seit Jahren, von der Öffentlichkeit unbemerkt, an schweren Depressionen gelitten. In die Trauer mischte sich tiefes Mitgefühl für seine Familie, die Enke in einem Abschiedsbrief um Verzeihung für seinen letzten Schritt gebeten hatte.

Weniger Mitgefühl erhielt der Mann, der am 10. November den aus Bremen kommenden Regionalzug gefahren hatte, und gegen 18.25 Uhr den Bahnübergang im niedersächsischen Eilvese passierte. Denn dort, in der Nähe seines Wohnortes Empede, hatte Enke neben den Bahngleisen gewartet. Als der Zug kam, warf er sich vor ihn – und nahm sich damit genau genommen nicht selbst das Leben. Er zwang jemand anderen, es zu tun.

Jedes Jahr sterben in Deutschland zwischen 800 und 1000 Menschen auf Bahngleisen. Einige davon sind tragische Unfälle. Die Mehrzahl jedoch geht auf Schienensuizide zurück. Der Todesunfallstatistik des Statistischen Bundesamtes zufolge waren es 2012 insgesamt 680 Menschen, die so nachgewiesenermassen aus dem Leben schieden, davon 481 Männer und 199 Frauen. In der Statistik der Deutschen Bahn liegen die Zahlen noch etwas höher. Das liegt daran, dass die Polizei nicht in jedem Fall den Suizid auch als solchen belegen kann.

Ein Kilometer bis zum Stillstand

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Das dauerhafte Stimmungstief hat viele Facetten.

Ein Lokführer, dem es passiert, spürt aber, wann ein Mensch ganz bewusst auf die Gleise gelaufen ist. Und wie es sich anfühlt, wenn man das realisiert. Die Notbremsung einleitet, und weiss, dass die Zeit nicht reichen wird. Auf geraden Strecken kann der Weg zwischen dem Erkennen einer Person auf dem Bahngleis und dem Stillstand des Zuges nach der Vollbremsung bis zu einem Kilometer betragen.

Das sind etwa 30 Sekunden. 30 Sekunden, in denen viele Lokführer dem Menschen auf dem Bahngleis, den sie überfahren werden, in die Augen sehen müssen. 30 Sekunden, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen. Und die sie nie wieder vergessen können. Jeder Lokführer trägt ein hohes Risiko, in seiner Berufslaufbahn wenigstens einmal, eher aber zwei- oder dreimal, selbst von so einem Unfall betroffen zu sein. In den Tod eines Menschen verwickelt zu werden, von dessen Leben sie nichts wissen.

Manche trifft es gar nicht, andere mehrmals. Das hängt von der Strecke ab, die man fährt, den Jahren, die man schon auf den Schienen unterwegs ist – und auch von purem Glück. Andreas Eckhardt, Ausbilder bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), hatte Glück. In den 30 Jahren, die der 51-Jährige als Triebfahrzeugführer, Weichensteller und Zugabfertiger gearbeitet hat, ist er nur einmal von einem Tod auf den Gleisen betroffen gewesen. Es war ein Unfall, und Eckhardt nur Zeuge, denn er arbeitete gerade als Zugabfertiger. Ein Mann war auf der U-Bahnlinie 1 hinter dem Zug ins Stolpern geraten und auf die offene Stromschiene gefallen.

Verwischung von Opfer- und Täterrolle

"In dem Moment, wo es passiert, macht es einem nicht so viel aus, da funktioniert man erst mal nur", sagt er. Notruf senden, Strom abstellen lassen, Unfallstelle sichern. "Ich wurde dann nach Hause geschickt, und erst da habe ich gemerkt, dass das etwas mit mir gemacht hat. Ich habe gezittert und stand eine Weile unter Schock", erzählt er. "Dabei habe ich nur daneben gestanden, als es passierte. Wenn man als Fahrer in dem Zug sitzt, muss das noch viel schlimmer sein." 14 Tage war er krankgeschrieben, dann ging es wieder. Andere Kollegen aber hatten weniger Glück.

Einigen sei ein Schienensuizid schon elf- oder zwölfmal passiert, so Eckhardt. Ob diese das noch verkraften können, sei sehr unterschiedlich. "Manche sind da psychologisch extrem belastbar – und andere eben nicht so sehr", sagt er. "Aber das muss man auch nicht. Jeder ist eben anders." Das Risiko, unverschuldet am Freitod eines Menschen beteiligt sein zu können, sei den meisten Lokführern zu Beginn ihrer Ausbildung nicht bewusst, sagt Christian Gravert, Arzt und Leiter des Gesundheitsmanagements bei der Deutschen Bahn. Im Gegensatz zu Polizisten, Soldaten oder Rettungssanitätern würden sie sich vorher meist nicht gedanklich intensiv damit befassen.

Arzt stellt Diagnose

Bluthochdruck und Co. zählen zu den häufigsten Diagnosen.

Oft ist die erste Reaktion nach einem solchen Unfall heftig. Intensive Angst mischt sich dann mit Entsetzen, Hilflosigkeit und zum Teil starken körperlichen Reaktionen wie Zittern oder Schwitzen. Auch die Verwischung von Täter- und Opferrolle trägt ihren Teil dazu bei, dass ohne ein Betreuungsprogramm gut ein Drittel der betroffenen Fahrer nach einem solchen Unfall Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zeigen.

Dabei wird länger als vier Wochen nach dem Unfall das Ereignis noch immer unwillentlich wieder und wieder durchlebt, begleitet von Angstzuständen, Albträumen, Schreckhaftigkeit und Reizbarkeit. "Die Bilder des Unfalls tauchen immer wieder auf, und die Betroffenen können oft nachts nicht mehr schlafen", erklärt Doris Denis, die als Psychotherapeutin auch betroffene Lokführer behandelt. "Und der Gedanke, einen Menschen überfahren und getötet zu haben, ist natürlich sehr quälend."

Die Angst vor der Berufsunfähigkeit

Mögliche Langzeitfolgen beeinträchtigen aber nicht nur die Lebensqualität der Lokführer. Im schlimmsten Fall macht eine PTBS sie berufsunfähig. Um eine Absicherung für diesen Fall bemüht sich die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GdL) im derzeitigen Tarifstreit mit der Bahn. Diese zeigte gerade mit einem neuen Angebot für eine bessere Absicherung berufsunfähiger Mitarbeiter ihr Entgegenkommen – bemüht sich aber aber, wie auch die BVG, schon in der Ausbildung, die Lokführer bestmöglich auf solche Unfälle vorzubereiten.

Das ist auch deshalb wichtig, weil der Lokführer nach einem Unfall zunächst allein ist: Nach der Notbremsung muss er die Strecke sperren lassen und über die Leitstelle die Rettungsdienste informieren. Dann aber werde er sofort abgelöst und umfassend betreut, so Gravert. "Ausserdem bekommt er innerhalb der ersten 30 Minuten einen Anruf durch einen Kollegen oder Gruppenleiter, der in psychologischer Hilfe ausgebildet ist."

Der Betroffene wird von der Arbeit freigestellt, bis er sich wieder bereit für den Dienst fühlt – das können Tage oder Wochen sein. In dieser Zeit gibt es ein abgestuftes Betreuungssystem, das von Einzelgesprächen bis zu einem stationären Aufenthalt reichen kann. Auch die ersten Fahrten nach dem Unfall können von Kollegen begleitet werden.

Vielen gelingt der Wiedereinstieg gut: Die Rate jener mit einer PTBS sinkt durch das Betreuungsprogramm der Bahn auf zehn Prozent. Manche aber schaffen es nicht. "Lokführer schätzen und lieben ihren Beruf in der Regel sehr", so Denis. Wer ihn nicht mehr ausführen könne, empfinde das als grossen Verlust – auch wenn das Bemühen gross sei, eine andere passende Stelle anzubieten. Doch auch wer weiterfahren kann, so Denis, tut dies nach einem Unfall mit erhöhter Anspannung. "Ein Teil von ihnen wird aufmerksamer, vorsichtiger, reagiert manchmal über", sagt sie. "Die frühere Gelassenheit fehlt ihnen. Aber sie fahren trotzdem."

© DIE WELT

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