Die Landkarte im Gehirn – Tages

Die beiden Frauen im roten und im blauen Strickjäckchen wollten fast nicht mehr aufhören, sich gegenseitig auf ­Erinnerungsfotos zu verewigen. Ihnen war wohl nicht klar, dass ihnen Journalistenkollegen auf der ganzen Welt via Webcam dabei zusahen. Kurz nach 11.30 Uhr war dann ihr Auftritt endlich zu Ende: Göran Hansson, Sekretär des Nobelkomitees, betrat das Auditorium am Karolinska-Institut in Stockholm und eröffnete gewohnt tadellos gekleidet und mit perfekt gestutztem Bart den diesjährigen Preisreigen.

Der Medizinnobelpreis geht dieses Jahr zur Hälfte an John O’Keefe, einen britisch-amerikanischen Neuroforscher am University College London, sowie zu je einem Viertel an das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser von der technisch-naturwissenschaftlichen Universität Norwegens in Trondheim. Die Neurowissenschaftler haben Zellstrukturen im Gehirn entdeckt, dank denen wir uns orientieren können. Es sei eine Art «inneres GPS» im Gehirn, hiess es gestern bei der Würdigung in Stockholm.

Fachkollegen der drei Preisträger sind begeistert von der Auszeichnung. «Eine tolle Sache», sagt Helmut Kettenmann, Hirnforscher am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. Die Ausgezeichneten hätten es absolut verdient, und es sei auch niemand vergessen gegangen. Ähnlich tönt es von Fritjof Helmchen vom Institut für Hirnforschung an der Universität Zürich. Es hätten zwar viele Forschungsgruppen dazu beigetragen, das Orientierungssystem im Gehirn zu entschlüsseln, sagt er. «Doch die Arbeiten von O’Keefe und dem Ehepaar Moser sind absolut grundlegend.»

Alle drei Preisträger sind Vertreter der experimentellen Hirnforschung. Das Ehepaar Moser gehört denn auch zu den Kritikern des milliardenschweren Human Brain Project an der ETH Lausanne, welches vor allem mithilfe von ­Simulationen den Vorgängen im Gehirn auf die Schliche kommen will. Die beiden Preisträger hatten im Juli zusammen mit zahlreichen weiteren Neuroforschern einen offenen Protestbrief an die EU-Kommission unterschrieben.

Forscher ohne Scheuklappen

Den in Stockholm anwesenden Journalisten waren die Preisträger allerdings nicht bekannt. Bei der Bekanntgabe der Namen verbreitete sich Ratlosigkeit, die in der unvermeidlichen Frage gipfelte, ob die Forscher denn beim «inneren GPS» auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen gestossen seien. Dies löste wiederum bei den Experten Ratlosigkeit aus – schliesslich handelt es sich um ganz grundlegende Mechanismen, und zudem fand die prämierte Forschung an Ratten statt.

John O’Keefe entdeckte 1971 sogenannte Ortszellen («place cells») bei Ratten, denen er Mikroelektroden in eine Hirnstruktur namens Hippocampus implantiert hatte. Dabei entdeckte der Neuroforscher eher zufällig, dass gewisse Zellsignale ortsabhängig waren. Das heisst, wenn ein Tier sich in einem bestimmten Teil des Käfigs aufhielt, wurden immer die gleichen Neurone im Hippocampus aktiv. Wechselte die Ratte den Ort, reagierten andere Ortszellen. O’Keefe schloss daraus, dass der Hippocampus eine Art kognitive Landkarte im Gehirn generiert, die den Tieren hilft, sich zu orientieren und einen Ort wiederzufinden.

Über drei Jahrzehnte später, im Jahr 2005, entdeckten May-Britt und Edvard Moser ebenfalls bei Ratten eine weitere Art von Zellen, die bei der Orientierung wichtig sind. Es handelt sich um sogenannte Rasterzellen («grid cells»), die sich in einer Hirnstruktur in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hippocampus befinden. Mithilfe dieser Zellen legt das Gehirn eine Art Koordinatensystem aus Sechsecken über die Umgebung. Sie sind ebenfalls Teil einer inneren Landkarte und signalisieren die Entfernungen, welche die Tiere zurücklegen.

Unklar ist noch, inwieweit die Erkenntnisse der drei Wissenschaftler auf den Menschen übertragbar sind. «Dazu gibt es verschiedene Ansichten», sagt Lutz Jäncke, Neuropsychologe an der Universität Zürich. «Ich bin mir nicht so sicher, dass dies beim Menschen gleich strukturiert ist wie bei den Ratten.» Bei anderen Hirnfunktionen fände man oft grosse Unterschiede. Dass dennoch grundlegende Ähnlichkeit besteht, lässt sich auch bei Alzheimerpatienten beobachten. Bei ihnen beginnt der Hirnzerfall im Hippocampus, wodurch die Fähigkeit, sich räumlich zu orientieren, als Erstes verloren geht.

«Die Preisträger sind alle weiterhin sehr stark auf die Forschung fokussiert», sagt Fritjof Helmchen, der mit allen drei in einem Forschungsverbundprojekt zusammengearbeitet hat. O’Keefe arbeite trotz seiner 74 Jahre noch experimentell im Labor. Er sei ein Teamworker und bekannt dafür, dass er junge Leute fördere. Davon konnten wohl auch May-Britt und Edvard Moser profitieren. Sie forschten einige Zeit bei O’Keefe, bevor sie in Trondheim in den letzten 20 Jahren beharrlich ihre Forschung aufbauten. «Es ist ein fantastisches Zentrum geworden, welches heute weltbekannt ist», sagt Helmchen. Lutz Jäncke gefällt vor allem, dass das Forscherpaar Moser dank seinem Wissen in verschiedensten Fachgebieten, von Psychologie bis Mathematik, zum Erfolg gelangt sind. «Das sind Forscher ohne Scheuklappen», sagt Jäncke.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)

(Erstellt: 06.10.2014, 22:33 Uhr)

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