Die Krux mit dem Placeboeffekt

In den USA ist alles eine Nummer grösser. Das gilt nicht nur für Wolkenkratzer oder Einkaufszentren, sondern seit einiger Zeit auch für den Placeboeffekt. Denn die Macht der Suggestion ist in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen, wie Forscher der McGill-Universität in Montreal (Kanada) kürzlich feststellten – und zwar ausschliesslich in den USA. Als Folge davon verminderte sich die Kluft zwischen Medikamentenwirkung und Placeboeffekt: Lag die lindernde Wirkung von Schmerzmitteln im Jahr 1996 durchschnittlich noch 27 Prozent höher als die von Scheinmedikamenten, betrug dieser Unterschied zuletzt nur noch 9 Prozent.

Die Forscher analysierten insgesamt 84 klinische Studien mit Schmerzmedikamenten, die zwischen 1990 und 2013 durchgeführt wurden. Dabei zeigte sich: Je länger die Studien dauerten, desto stärker war der Placeboeffekt. «Vor allem in den USA werden klinische Untersuchungen mittlerweile mit weit höherem Aufwand betrieben als noch vor wenigen Jahrzehnten», sagt Petra Schweinhardt, Mitautorin der unlängst im Fachblatt «Pain» erschienenen Studie.

Die naheliegende Vermutung: Die sehr enge Betreuung bei solchen Studien beeinflusst die Erwartungshaltung der Probanden positiv – und steigert damit den Placeboeffekt. «Allerdings hat diese plausible Ursache noch niemand belegen können», so die Ärztin, die seit knapp zehn Jahren in Montreal über Schmerzen forscht. Eine andere Erklärung hat Internist und Psychotherapeut Wolf Langewitz vom Universitätsspital Basel parat: «Es kann auch gut sein, dass früher die Wirksamkeit der Pharmaka einfach häufiger überschätzt wurde.» Insbesondere kleine Studien seien bekanntermassen dafür anfällig.

Körpereigene Opiate

Dass die Psyche grossen Einfluss auf mentale Phänomene wie Schmerz hat, ist indes nicht neu. Während des Zweiten Weltkriegs fiel Militärärzten auf, dass allein die Aussicht auf eine schmerzstillende Spritze die Pein verwundeter Soldaten dämpfte – auch dann, wenn die Infusion in Ermangelung wirksamer Opiate nur Kochsalz enthielt.

Jahrzehnte später konnten Hirnforscher die Pfade der Suggestion im Gehirn aufzeigen. Vor allem der Italiener Fabrizio Benedetti demonstrierte um die Jahrtausendwende, dass positive Erwartung und Erfahrung körpereigene Opiate durch das Nervensystem rauschen lassen. «Wir sehen in den letzten Jahren, wie stark und nützlich diese Effekte sein können», sagt Schweinhardt. Wären die natürlichen Schmerzfilter besser verstanden, liessen sie sich für therapeutische Zwecke aktivieren.

Der Pharmaindustrie bereitet der Placeboeffekt jedoch zunehmend ernsthafte Schwierigkeiten. Weil er im Rahmen von Studien steigt, fällt es ihnen schwerer, bei ihren Medikamenten eine therapeutische Wirkung nachzuweisen. Erstmals umfangreich debattiert wurde dieser Zusammenhang vor sieben Jahren, als der US-amerikanische Psychologe Irving Kirsch in einer Übersichtsarbeit aufgezeigt hatte, dass weit verbreitete Antidepressiva kaum besser wirken als Placebos – nach formalen Standards also so gut wie gar nicht. Viele Psychiater und Pharmaforscher wollten diesen Schluss allerdings nicht gelten lassen: Der Placeboeffekt sei insbesondere bei psychischen Störungen derart mächtig, dass er die Wirkung der Pharmaka überflügeln könne. Ähnlich argumentierten zuletzt auch Schmerzmittelhersteller. In den letzten zehn Jahren scheiterten 90 Prozent ihrer Präparate am Wirksamkeitsnachweis.

Was ein wenig nach Schutzbehauptung klingt, stützt das Forscherteam aus Kanada nun mit Belegen. «Die Pharmafirmen haben ein grosses Problem», stellt Schweinhardt fest. Seitens der Industrie möchte man daher den Erfolg einer Therapie auch nicht mehr nur am Ausmass der Schmerzreduktion bemessen. «Bewertet man auch andere Kriterien wie Lebensqualität, bilden sich Medikamenteneffekte stärker ab», sagt Mathis Zopfi von Grunenthal, einem auf Schmerzmittel spezialisierten Pharmaunternehmen.

Psychologische Motivation

Wenn Placebos allerdings tatsächlich die Wirkung von Schmerzmitteln übertrumpfen, kann dies nur bedeuten, dass eine Grundannahme des Placeboprinzips falsch ist. Nämlich die, dass der Placeboeffekt immer besteht – auch bei wirksamen Medikamenten. Schliesslich weckt der «echte» Wirkstoff ebenfalls positive Erwartungen. Deshalb sollte der Placeboeffekt nicht nur in der Kontrollgruppe steigen, sondern auch bei Patienten, die mit einem pharmakologisch aktiven Mittel behandelt werden.

Doch die Realität widerspricht dieser Grundannahme. In ihrer Studie seien die Therapieeffekte in Placebogruppen angestiegen, während sie in den Wirkstoffgruppen gleich blieben, sagt Petra Schweinhardt. «In der Tat scheinen sich spezifische und unspezifische Wirkung nicht zu addieren.» Eine Erklärung dafür könne sein, dass Placebo und Pharmakon am Ende um die gleichen Strukturen und Funktionen im Nervensystem konkurrieren, so Schweinhardt. «Das bedeutet aber auch, dass man durch psychologische Motivation ganz erhebliche Therapieerfolge erzielen kann und dass dieses Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft ist.»

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 28.12.2015, 19:49 Uhr)

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