Die Kraft der Rituale: Weihnachtshassern droht ein Dasein als Außenseiter …

Alle Jahre wieder: Weihnachten ist nicht irgendein Fest im deutschen Traditionskalender. Für Christoph Wulf, Erziehungswissenschaftler und Anthropologe an der Freien Universität Berlin, ist es das wichtigste Familienritual in Deutschland. Wer sich der Feier auf Dauer entziehe, könne zum Außenseiter werden. Wulf forscht über Weihnachtsrituale.

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Anders als früher müssten Weihnachtsmuffel heute nicht mehr mit Sanktionen rechnen. Doch wer nicht feiert, kann schnell zum Außenseiter werden

Was ist an Weihnachten anders als bei einer Geburtstagsfeier?

Christoph Wulf: Weihnachten ist nach wie vor das wichtigste Familienritual. Beim Geburtstag wird einer gefeiert. An Weihnachten ist es die ganze Familie, die sich feiert. Das hängt mit der christlichen Tradition zusammen, bei der die Geburt eines Kindes gefeiert wird. Nach wie vor ist Weihnachten heute das Fest von Eltern und Kindern. Sie freuen sich darüber, dass sie miteinander verbunden sind. In der Familie werden die Kinder gefeiert, weil es ohne sie die Familie nicht gibt. Durch Kinder wird sie am Leben erhalten.

Was verstehen Sie unter einem Weihnachtsritual?

Wulf: Das Ritual ist in diesem Fall eine Inszenierung und Aufführung, bei der Familien ihre besondere Existenz feiern. Sie müssen sich inszenieren, um sich von anderen zu unterscheiden. Da geht es um Vertrauen und Wohlfühlen, es geht um gemeinsame Erinnerungen und Geschichten. Es entsteht ein Fluss von Gefühlen, der die Menschen verbindet und den wir oft als beglückend erleben. Das Weihnachtsritual hat eine große soziale Dynamik, unabhängig davon, wie jemand Weihnachten interpretiert. Man kann sich dieser Macht nicht entziehen. Je älter man wird, desto mehr Traditionen und Bilder erinnert man. Diese Erinnerungen geben Sicherheit und Sinn. Sie wirken selbst dort, wo Familien auseinandergebrochen sind.


Was gehört alles zum Ritual dazu?

Wulf: Das erste Element hat etwas mit religiösen Praktiken zu tun. Viele Menschen gehen an Weihnachten in die Kirche – und oft nur an diesem Tag. Auch wer nicht religiös ist, wird sich eine Form von Beschaulichkeit suchen, vielleicht Musik hören oder etwas anderes Kontemplatives tun. Das zweite wichtige Ritual ist das gemeinsame Essen. Viele Familien haben ein bestimmtes Festmenü, das sie jedes Jahr zubereiten. Die einen essen Ente, die anderen Karpfen, die dritten Kartoffelsalat mit Würstchen. Entscheidend ist, dass es ein Familienessen gibt, das sich immer wiederholt und das man erinnert. So erzeugt man Gemeinschaft. Es entsteht sogar eine Art Familiengeschmack. Um einen Tisch herumzusitzen und sich zu unterhalten, das ist das Zentrum des Weihnachtsrituals.


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Das sind die verschiedenen Weihnachtstypen. Wer zu den Etablierten gehört, hat es geschafft. Man gehört zum selbstbewussten Establishment und ist von einer Ethik des Erfolgs durchdrungen. Machbarkeitsdenken und ausgeprägte Exklusivitätsansprüche sind für diese Menschen charakteristisch.


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Bei dieser kleinen gesellschaftlichen Gruppe handelt es sich um eine extrem individualistische neue Bohème. Wichtig ist ihren Vertretern das ungehinderte Ausleben von Spontaneität. Dabei wird ein Leben mit Widersprüchen durchaus akzeptiert. Man sieht sich selber als die Lifestyle-Avantgarde.


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Menschen dieser spaßorientierten, modernen Unterschicht verweigern Konventionen, die für andere selbstverständlich sind. Sie negieren auch die Verhaltenserwartungen, die von der Leistungsgesellschaft an sie gestellt werden.


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Diese gesellschaftliche Gruppe lässt sich als das alte deutsche Bildungsbürgertum beschreiben, das ein konservatives Verhältnis zur Kultur hat. Gepflegte Umgangsformen sind für konservative Menschen von größter Bedeutung. Ihre Pflichtauffassung ist humanistisch geprägt.


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Für dieses Unterschichtmilieu ist eine materialistische Ausrichtung charakteristisch. Die von den Menschen gespürten sozialen Benachteiligungen versuchen sie durch Konsum zu kompensieren. Ihr vordringliches Ziel ist es, den Anschluss an die Konsumstandards der breiten gesellschaftlichen Mitte zu halten.


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Bei diesen Menschen haben wir es mit Vertretern eines aufgeklärten Milieus der Nach-68er zu tun. Bei ihnen herrscht insgesamt eine liberale Grundhaltung vor, und es dominieren eben postmaterielle Werte. Die Interessen dieser Bundesbürger sind also eher von intellektueller Natur.


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Zu ihnen gehört der Sicherheit und Ordnung liebende Mensch, der vornehmlich der Kriegsgeneration angehört. Er ist meist in der kleinbürgerlichen Welt verwurzelt oder kann auch der traditionellen Arbeiterkultur zugerechnet werden.


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Obwohl die bürgerliche Mitte hierzulande noch immer das größte Milieu darstellt, gehören ihr doch nur noch 15 Prozent der Deutschen an. Diese „Mainstream-Menschen" zeichnen sich durch eine starke Statusorientierung aus und streben sowohl nach beruflicher als auch sozialer Etablierung. Gesicherte finanzielle Verhältnisse sind ihnen wichtig. Und im Privatleben streben sie eine große Harmonie an.


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Dieser Teil der Bevölkerung ist die junge, unkonventionelle Leistungselite, die sowohl beruflich als auch privat versucht, ein sehr intensives Leben zu führen. Moderne Performer sind insbesondere extrem flexibel und durchweg von Multimedia, zum Beispiel einem vielseitig zu nutzenden iPhone, begeistert. Für sie ist es überall im Leben wichtig, stets aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können.

Und was ist mit Geschenken?

Wulf: „Das ist das dritte Element. Eine Dimension ist nach wie vor die Religiöse. Gott schenkt den Menschen seinen Sohn zur Erlösung. Der Austausch von Geschenken in der Familie ist eine Analogie dazu. Es begründet Gemeinschaft und ist die Grundbedingung des Sozialen: Ich gebe etwas. Der andere nimmt es an. Und ich erwarte eine Gegengabe.

Welche rituellen Elemente gibt es noch?

Wulf: Die Offenheit. Es wird nichts verplant zu Weihnachten. Man spielt mit den Kindern, erzählt sich Geschichten, hat Zeit füreinander.

Aber es läuft nicht immer so harmonisch ab.

Wulf: Da tauchen natürlich auch Konflikte auf, weil es hohe Erwartungen gibt, an Harmonie und an das Glück. Man wird leicht enttäuscht durch irgendwelche Äußerungen, die das zerstören. Manchmal werden Konflikte in Familien aber auch reduziert, wenn man zusammen feiert. Rituale haben die Möglichkeit, Differenzen durch gemeinsames Tun außer Kraft setzen.

Was zählt heute alles als Familie?

Wulf: Es ist nicht einfach zu sagen, was eine Familie ausmacht. Es gibt ja auch Freunde, die zur engen Familie gehören. Am Weihnachtsfest wird aber genau bestimmt, wer dazugehört. Da trifft sich ein bewusst ausgewählter Kreis. Es gibt so viele Formen von Familien, auch Patchworkfamilien. Manchmal ist es schwer, an Weihnachten zu einer familiären Gemeinschaft zu werden und familiäres Glück zu erleben. Da kann zum Beispiel auch Trauer hochkommen, über geschiedene Ehen, verlorene Familienmitglieder. Auch hier zeigt sich die Kraft und soziale Macht des Weihnachtsrituals.

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      Was machen Singles, die nicht mit ihrer Familie feiern wollen?

      Wulf: Es ist schwer, als Single etwas ganz anders zu machen. Auch Singles werden auf bestimmte rituelle Arrangements zurückgreifen, auf ein besonderes Essen zum Beispiel. Viele werden an diesen Tagen auch die Nähe eines anderen Menschen suchen. Es gibt bestimmte Grundbedürfnisse, die sich in unserer Kultur an das Weihnachtsfest knüpfen.

      Es gibt passionierte Weihnachtshasser.

      Wulf: Wenn man Weihnachten gar nicht feiern möchte, so ist das heute möglich. Früher waren Rituale stärker verpflichtend. Da hatte man mit Sanktionen zu rechnen. Heute ist die Gesellschaft in höherem Maße offen. Doch meistens zahlen die, die sich an diesen Tagen außerhalb der Gemeinschaft stellen, einen Preis auf der Ebene ihrer sozialen Beziehungen dafür. Sie nehmen sich eine Lebensmöglichkeit. Sie verzichten auf Familie, Freundschaft, Nähe, Vertrauen und langfristige Bindungen. Man wird sie deshalb nicht bestrafen, aber schon sagen: Das ist ein Außenseiter, der Gemeinschaft und Nähe nicht leben kann, der vielleicht sogar Hilfe braucht.

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