Die ganze Wahrheit über das Lügen

Schon Nietzsche stöhnte: "Die Menschen lügen unsäglich oft." Er griff für diese Erkenntnis allerdings auf persönliche Reflexionen und Beobachtungen zurück, die bekanntermaßen nicht unbedingt exakt sind. Wissenschaftler müssen daher den Philosophen heute ein wenig relativieren.

Demnach lügen Menschen nicht ganz so häufig, wie gerne propagiert wird. Aber sie tun es immer öfter – und schuld daran ist der moderne, hektische Lebensstil.

Wie oft lügt der Mensch? 200 Mal pro Tag? Das ist jedenfalls die Zahl, die im Internet am häufigsten genannt wird und auch in Medien, Vorträgen und sogar Diplomarbeiten auftaucht.

Doch niemand weiß so recht, woher sie kommt. Einmal werden britische Forscher als Quelle genannt, dann wieder ein amerikanischer Psychologe, dessen Nachname in drei Versionen angeboten wird: von Frazer über Fraser bis zu Frazier. In den wissenschaftlichen Datenbanken lässt sich zu keinem davon eine Arbeit zum Lügen finden. Möglich also, dass die weithin verbreitete Lügenzahl von 200 selbst nur eine Lüge ist.

Seriöse Studien kommen demgegenüber auf weitaus geringere Quoten. Die amerikanische Psychologin Bella DePaulo ließ 147 Versuchspersonen ein Tagebuch schreiben, über ihre Begegnungen mit anderen Menschen – und über all die kleinen Unwahrheiten, die dabei geäußert wurden.

Die anschließende Durchsicht der Berichte ergab gerade mal eine Quote von zwei Lügen pro Tag. Wobei allerdings gängige Höflichkeitslügen wie etwa das typisch amerikanische "Fine" auf die Frage "How are you?" außen vor gelassen wurden.

Außerdem unterstellt diese Studie, dass die Probanden in ihrem Tagebuch ehrlich über ihre Lügen ausgesagt haben – und echte Lügner werden gerade das am wenigsten tun.

Wer beeindrucken will, lügt besonders oft

So zeigt denn auch eine andere amerikanische Studie, dass wir wohl deutlich öfter lügen als zwei Mal pro Tag. Vor allem in Situationen, in denen wir jemandem gefallen oder ihn beeindrucken wollen, fällt uns das Schwindeln offenbar leicht.

Robert Feldman von der Universität Massachusetts lud 121 Studenten zu einem zehnminütigem Gespräch mit einem ihnen unbekannten Menschen ein, dem sie sich als sympathisch oder kompetent präsentieren sollten.

Das Treffen wurde aufgezeichnet und anschließend den Studenten vorgespielt, die dann selbst ihre Lügenquote einschätzen durften. 60 Prozent gaben dabei unumwunden zu, kleinere oder größere Lügen eingestreut zu haben.

Zu den kleineren gehörte, dass man Sympathie für jemanden bekundete, den man eigentlich nicht ausstehen konnte. Zu den größeren gehörte, dass sich ein völlig unmusikalischer Student als Mitglied einer Rockband ausgab.

Erzählt wurde dieses Märchen von einem der männlichen Probanden, die nachgewiesenerweise eher zur Prahlerei neigten. Frauen hingegen trimmten ihre Aussagen eher auf Konsens mit dem Gesprächspartner.

2,9 Lügen in einem kurzem Gespräch

Doch ansonsten gab es zwischen den Geschlechtern keine besonderen Unterschiede. "Insgesamt waren die Studenten selbst überrascht, wie oft sie flunkerten", berichtet Feldman. Ihre durchschnittliche Lügenquote lag bei 2,9 – und das bei einem Gespräch, das gerade mal zehn Minuten dauerte.

In einem weiteren Test bat der Psychologe seine Probanden erneut zu einem Gespräch mit einem Unbekannten. Der einen Hälfte wurde gesagt, dass sie ihren Gesprächspartner niemals wiedersehen würden, der anderen, dass noch drei weitere Treffen folgen würden.

Wer nun vermutet, dass unter denjenigen, die ihre Gesprächspartner nie wieder zu treffen glaubten, besonders oft gelogen wurde, ist auf dem Holzweg. Denn die Lügenquote preschte in beiden Fällen auf fast 80 Prozent.

Und die weiblichen Probanden flunkerten sogar besonders fleißig, wenn sie von weiteren Treffen ausgingen. Offenbar war ihnen das Lügen als sozialer Kitt bedeutsamer als das Risiko, in weiteren Gesprächen als Lügnerin enttarnt zu werden.

Feldmans Studie gibt bereits einen Hinweis darauf, dass die Neigung zum Lügen weniger von der Persönlichkeit abhängt, als von den vorherrschenden Situationen und Bedingungen – und davon, wie sie empfunden werden.

Das Lügnerumfeld macht den Unterschied

Anders ausgedrückt: Es gibt weniger die typische Lügnerpersönlichkeit als das typische Lügnerumfeld. Wer etwa unter Leistungsdruck steht und sich rechtfertigen muss, wird eher flunkern und betrügen als jemand, der mit breiter Brust in der Welt steht und niemandem mehr etwas beweisen muss.

So hat Feldman unter den 18- bis 34-Jährigen besonders viele Lügner ausgemacht, während im Seniorenalter sich zunehmend die Weis- und Wahrheit des Alters durchzusetzen scheint.

Das amerikanische Josephson-Institut für Ethik kommt nach regelmäßigen Erhebungen an fast 30.000 Highschool-Mitgliedern zu dem resignierten Schluss: "Der Betrug an der Schule ist längst zügellos geworden – und es wird immer schlimmer." In der jüngsten Untersuchung gaben 64 Prozent der Schüler zu, sich im vergangenen Jahr mindestens einmal eine gute Note in einem Test erschlichen zu haben.

In Deutschland dürfte die Situation ähnlich aussehen. Dafür sprechen Webseiten wie www.spickzettel.de und www.schoolunity.de, auf denen man lernen kann, wie man sich per Handy, beschriftete Wasserflaschen oder neuerdings auch mithilfe von UV-Spickern durch die Prüfungen mogelt.

Besserverdienende neigen besonders stark zur Lüge

Die ambitionierte Jugend lügt also öfter als das gesetzte Alter, weil sie noch mehr Hindernisse auf dem Weg zu ihren Zielen umkurven muss. Doch es gibt Ausnahmen, wie jetzt eine amerikanische Studie herausgebracht hat. Hier neigten nämlich ausgerechnet Besserverdienende besonders stark zur Lüge.

In Verhandlungssituationen spielten sie öfter mit gezinkten Karten, und im Wettbewerb um einen Preis scheuten sie sich nicht davor, die Regeln zu brechen und ihre Mitbewerber zu übervorteilen. Doch warum taten sie das, obwohl sie doch bereits gut situiert waren?

Studienleiter Paul Piff von der University of California vermutet, dass sich in diesen besseren Kreisen bereits ein eigenes Wertesystem herausgebildet hat, "in dem Gier und andere Egoismen höher bewertet werden als Wahrhaftigkeit und gemeinschaftliches Handeln".

Das bedeutet nicht unbedingt, dass Reichtum an sich zum Lügen verführt. Denn sobald die Psychologen den finanzschwächeren Probanden die egoistische Gier als positiven Wert vermittelten, logen sie ebenfalls ohne jegliche Scheu.

Die amerikanische Soziologin Jan Stets konnte in diversen Experimenten passend zu Piffs Erkenntnissen nachweisen, dass die Bereitschaft zu Schwindel und Betrug von den Wertvorstellungen der Kleingruppe abhängt, in der man sich vorzugsweise aufhält: "Die für die Rezession mitverantwortlichen Broker, Hypothekenspekulanten und Investment-Banker konnten vermutlich so handeln, wie sie es getan haben, ohne Scham und Schuldgefühl, weil ihre moralische Identität auf einem niedrigen Standard war", erklärt sie.

Mikrokosmos eines Menschen entscheidend

"Das aus diesem Standard folgende Verhalten wurde von den Kollegen nicht angefochten." Der Mikrokosmos eines Menschen – seine Familie, Freunde, Kollegen und Kommilitonen – entscheidet also, wie viel und wie schamlos er betrügt. Staat, Religion und Gesellschaft spielen hingegen nur eine geringe Rolle.

Das zeigt also, dass auch eine biografische Komponente zum Schwindeln dazugehört. Eltern wissen, dass Kinder erst im Alter von etwa fünf Jahren mit dem Flunkern beginnen. Zunächst sind sie leicht zu durchschauen – doch schneller, als vielen Eltern lieb ist, mausern sie sich meist zu echten Flunkermeistern.

Verabschieden sollte man sich allerdings von der Vorstellung, dass es sich bei Lügnern durchweg um verdorbene Gesellen handelt, die aus rationalem Kalkül heraus handeln. Denn Menschen lügen, wie man an der Universität Amsterdam ermittelte, eher instinktiv als reflektiert.

Das Team um den Psychologen Shaul Shavi gab seinen 76 Probanden einen Würfelbecher, in dem man durch ein kleines Loch auf die Würfel gucken konnte. Dann sollten sie insgesamt drei Mal würfeln und dem Versuchsleiter sagen, welche Zahl dabei herausgekommen ist.

Allerdings wurde ihnen für jeden erwürfelten Punkt auch noch Geld angeboten, sodass jeder Einzelne vor der Entscheidung stand, ob er schummelt und abkassiert oder aber ehrlich bleibt und weniger entlohnt wird.

Für die Entscheidung bekamen die Probanden unterschiedlich viel Zeit: Die einen sollten das Würfeln binnen 20 Sekunden zu Ende bringen, während die anderen kein Limit gesetzt bekamen.

Die Gruppe, die unter Zeitdruck stand, erwürfelte, jedenfalls laut eigenen Angaben, einen durchschnittlichen Wert von 4,6, während die Gruppe ohne Zeitdruck nur 3,9 erreichte, was einigermaßen in der Nähe des statistischen Erwartungswertes von 3,5 liegt.

Wer länger nachdenken kann, bleibt eher bei der Wahrheit

Das Gewissen braucht eben eine Zeit, bis es sich hörbar machen kann. Umgekehrt könnte dies aber auch bedeuten, dass in einer Epoche, die zunehmend von Zeitdruck geprägt ist, alles auf eine steigende Lügenquote hinausläuft.

Und tatsächlich: Laut einer Studie der University of Carolina wird in E-Mails um etwa 50 Prozent mehr gelogen als im klassischen Brief – man schreibt am Rechner meistens schneller, sodass auch schneller eine Lüge ihren Weg findet.

Studienleiter Charles Naquin sieht darin nicht nur für passionierte Internet-User schlechte Nachrichten, sondern auch fürs Finanzamt: "Steuererklärungen, die online ausgefüllt wurden, könnten deutlich mehr Betrügereien enthalten als solche, die auf Papier eingereicht werden."

Allerdings gilt die Gleichung, dass mit der Spontaneität die Lügenquote steigt, nicht immer. Sie ist zwar alltagstauglich, greift aber nicht in Ausnahmesituationen. Denn wenn etwa ein Beschuldigter vor Gericht oder im Polizeiverhör lügt, muss er Fachleute von einer kompletten, nämlich "seiner" Geschichte überzeugen, und das klappt nur, wenn er sich bewusst ein stimmiges Lügengebilde zurechtzimmert.

Lügendetektor versagt bei Menschen mit guten Nerven

So etwas erfordert Kreativität, ein gutes Gedächtnis für die eigenen Gedankenkonstrukte und natürlich gute Nerven. Wer das mitbringt, kann bisher durch keinen Lügendetektortest wirklich zuverlässig überführt werden.

Vielleicht aber wird man ihm demnächst auf die Schliche kommen, indem man seine Nase vermisst. Denn Alan Hirsch von der amerikanischen "Smell Taste Treatment Research Foundation" entdeckte, dass beim Lügen mehr Blut in die Nase läuft als sonst. Es gibt ihn also doch, den Pinocchio-Effekt.

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