Die filigrane Handarbeiterin

Die filigrane Handarbeiterin

Von Urs Zurlinden.
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Sie führt das Skalpell an einer der heikelsten Körperteile des Menschen: Esther Vögelin, Handchirurgin am Inselspital in Bern, möchte erstmals in der Schweiz Handtransplantationen vornehmen. Doch die Versicherungen stellen sich quer.

Ein Leben für die Hand: Esther Vögelin, Chefärztin für Handchirurgie.

Ein Leben für die Hand: Esther Vögelin, Chefärztin für Handchirurgie.
Bild: Walter Pfäffli

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27 Knochen, 15 Gelenke: Allzweckwaffe Hand. (Bild: Walter Pfäffli)

Zur Person

Esther Vögelin ist in Aesch BL aufgewachsen. Nach dem Medizinstudium an der Universität Basel und drei Jahren Allgemeinchirurgie schloss sie 1994 am Unispital Basel die plastisch-chirurgische Ausbildung mit dem Facharzt ab. Es folgten eine zusätzliche Ausbildung in rekonstruktiver und ästhetischer Chirurgie in London und ein Forschungsaufenthalt mit Schwerpunkt Mikrochirurgie sowie Knochen- und Nervenregeneration in Kalifornien. Von 1998 bis 2001 spezialisierte sie sich in Bern weiter und erwarb den Facharzttitel in Handchirurgie. 2006 erhielt sie einen Lehrauftrag, und seit 2007 ist sie Chefärztin und Co-Direktorin der Universitätsklinik für plastische und Handchirurgie in Bern. Esther Vögelin ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern, wohnt in Bern und Aesch, fährt gerne Ski und wandert in allen Gebirgen dieser Welt.

Stichworte

  • Inselspital 

Inselspital, Bettenhochhaus, Stock F, Zimmer 112: Seit morgens um sieben Uhr ist Esther Vögelin, Chefärztin für Handchirurgie und Professorin mit einem Lehrauftrag an der Uniklinik, unterwegs für ihre Patienten. Nach 11 Stunden Spitaldienst bringt ihre Sekretärin eine letzte Unterschriftenmappe ins Büro, legt sie zuoberst auf den halben Meter hohen Stapel mit Krankengeschichten. Wenn die nach einer weiteren Stunde kontrolliert und unterzeichnet sind, kann Esther Vögelin ihren Fahrradhelm aufsetzen und quer durch die Stadt zu ihrer Wohnung radeln. Feierabend.

10800 Termine, 1724 Eingriffe

Der 12-Stunden-Tag hinterlässt kaum Spuren. Ihr bunter Schal, der aus dem weissen Arztkittel ragt, deutet auf einen Menschen hin, der inmitten der sterilen Spitalatmosphäre gute Laune haben kann. Prof.Dr.med. Esther Vögelin lacht auch, wenn sie über ihre Arbeit erzählt: die Handchirurgie und die Chirurgie der peripheren Nerven. 1724 Operationen haben sie und ihr Team – vier Oberärzte und vier Assistenzärzte – im letzten Jahr durchgeführt. Darunter nicht selten mehrstündige Eingriffe. Dazu kommen rund 8500 Patienten der Poliklinik mit 10800 Sprechstundenterminen im Jahr. Rund 30 Prozent der im Inselspital eingelieferten Notfälle hätten irgendetwas mit der Hand zu tun, erklärt sie: «Die Hände sind halt zuvorderst.»

Die Hand: Die 27 Knochen und 15 Gelenke lassen eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten zu. Und sie ist eine Allzweckwaffe, die vom Berühren, Streicheln, Zeichnen, Hämmern bis zum Schlagen, Prügeln und Faustkampf alles ausführt, was ihr das Gehirn befiehlt. Die Hand verkörpert wie kaum ein anderer Körperteil das Wesen des Menschen: Sie hilft beim Erfinden und Erschaffen von Neuem ebenso wie beim Verletzen und Vernichten. Dazu beansprucht sie allerdings einen grossen Teil des Gehirns. «Die Hand ist wie die Lippe gross abgebildet im Gehirn», sagt Esther Vögelin. «Ohne das Gehirn funktioniert sie nicht.»

Je trivialer, je wehleidiger

Wie wichtig dem Menschen die Hand ist, lässt sich wissenschaftlich belegen: 5 Prozent der Körperfläche nehmen 25 Prozent des ganzen motorischen Steuerungssystems im Gehirn in Anspruch. Auch das legendäre Fingerspitzengefühl ist medizinisch belegt: Nicht weniger als 17'000 Rezeptoren nehmen mit der Hand kleinste sensorische Veränderungen wahr. Mit dem überraschenden Effekt, dass der Mensch auf kleinste Handverletzungen mit Wehleidigkeit reagiert. «Wegen jeder kleinsten Wunde am Finger reagieren wir höchst sensibel», weiss Esther Vögelin aus ihrer Praxiserfahrung, «je trivialer die Verletzung ist, desto schwieriger gehen die Patienten damit um.»

Seit nunmehr 17 Jahren arbeitet die 53-jährige Ärztin jetzt auf der Handchirurgie im Berner Inselspital. Und ist nach wie vor fasziniert von der filigranen Arbeit mit und an der Hand: «Dabei geht es eben nicht nur um die Wiederherstellung von Gewebeverlusten, sondern immer auch um die Funktion.» Denn: «Eine Hand ist nur gut operiert, wenn sie wieder gut funktioniert», so Vögelin.

Das Problem: Der Krebs

Angesichts der verstümmelten Hände, die sie jeweils vor sich sieht, möchte Esther Vögelin ihr zentrales Anliegen umsetzen: die Transplantation einer Hand. Es wäre die erste in der Schweiz. Zwei Patienten warten darauf, junge Unfallopfer, er trägt ein Prothese, sie versteckt ihren Stummel beschämt in den Kleidern. Das Know-how wäre vorhanden, weltweit wurden schon über 90 Hände verpflanzt, in Frankreich, den USA, China und Polen haben Ärzteteams den Eingriff bereits vorgenommen.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat Vögelin und ihrem Team die Bewilligung dazu erteilt. Das Problem bei einer Handtransplantation ist weniger das rein chirurgische Können, sondern die sogenannte Immunsuppression: die vielfältigen Abwehrreaktionen des ganzen Immunsystems, wie sie auch nach einer Nierentransplantation vorkommen. Gegen die Abstossung der transplantierten Hand müssen die Patienten heute lebenslänglich Medikamente einnehmen, die zu schweren Nebenwirkungen wie Krebs führen können.

Warten auf den Entscheid

Dies wiederum ist der Grund, weshalb die Unfallversicherung sich bisher weigert, die Kosten zu übernehmen. Aus ethischen Gründen sei eine derart lange medikamentöse Behandlung nicht zu verantworten, so die Begründung. Eine Argumentation, die Esther Vögelin auf die Palme bringt: «Wenn sich eine Versicherung so auf die Ethik beruft, warum werden denn Krebsoperationen an Raucherlungen bezahlt?» Ein definitiver Entscheid steht noch aus, Vögelin übt sich in Geduld. Ihrem Forschungsteam ist es inzwischen weltweit erstmals gelungen, langfristig und nur mit einer lokal abgegebenen Medikamentendosis die Abstossung eines transplantierten Gliedes zu verhindern.

Preisgekrönt

Die Begeisterung für die Hand hat sich Esther Vögelin erst im Laufe ihrer beruflichen Karriere angeeignet. Die Tochter des reformierten Dorfpfarrers von Aesch BL wusste zunächst nur: «Ich werde sicher nie Pfarrer.» Nach problemlosen Jahren als Musterschülerin wurde sie von ihrem späteren Mann – auch er ist Arzt – zum Medizinstudium überredet. Auf der Suche nach einer für sie passenden fachlichen Ausrichtung landete sie zuerst in London, wo sie eine Zusatzausbildung in plastischer Chirurgie absolvierte. Dann reiste sie weiter in die USA, wo sie sich in Mikrochirurgie spezialisierte und sich vertieft mit Knochen- und Nervenregeneration befasste. Es sollte ihr erster Kontakt mit dem Problem der Immunsuppression werden – und ihr ein halbes Dutzend wissenschaftliche Preise eintragen. Zurück in der Schweiz, suchte sie eine feste Anstellung, und das Inselspital Bern nahm sie mit Handkuss.

Den Ball flach halten

Das war im Jahre 1998. Dieses Jahr ist die Bewilligung des BAG für die erste Handtransplantation in der Schweiz abgelaufen und musste verlängert werden. Esther Vögelin möchte im Moment den Ball zwar flach halten im Streit mit den aus ihrer Sicht uneinsichtigen Versicherungen. Ihr Unverständnis darüber, dass ein solches Gremium sich hinter Ethik- und Moralkonstrukten verbirgt, statt den Leidtragenden medizinisch zu helfen, ist ihr nicht zu verübeln. (Berner Zeitung)

Erstellt: 12.03.2014, 14:03 Uhr


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