Die Dunkelheit in uns Menschen

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04. Januar 2012

SACHBUCH: Angesichts ihres Verschwindens versucht sich Heinz-Gerhard Friese an einer "Ästhetik der Nacht".


  1. Die Sonne geht, es kommt die Zeit für die Nachtromantiker. Foto: dpa

Soviel Nacht wie derzeit war selten. Das "Lucerne Festival" etwa hat sein letztjähriges musikalisches Programm wie schon zahlreiche andere Veranstalter zuvor unter das Thema "Nacht" gestellt. Luzide literarische, philosophische und kulturhistorische Illuminationen haben das Projekt begleitet. Jetzt bietet der Kulturwissenschaftler, Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur Heinz-Gerhard Friese, universitär in den Fächern Philosophie mit dem Schwerpunkt Ästhetik, Psychologie, Soziologie und Kunstgeschichte zu Hause, eine 1300 engbedruckte Seiten umfassende "Ästhetik der Nacht" an, samt zweitausend Anmerkungen und vierzigseitigem Literaturverzeichnis, aber leider registerlos. Wie schon die Zürcher Anglistin Elisabeth Bronfen vor vier Jahren mit ihrem Buch "Tiefer als der Tag gedacht" will Friese damit zugleich eine "Kulturgeschichte der Nacht" vorlegen. Die "Ästhetik" wird als deren nur erster Teil mit dem Untertitel "Leib und Raum" annonciert. Es ist themengerecht nicht zu viel gesagt, dass der interessierte Leser etliche seiner noch ungenutzten Nächte für die Lektüre ver(sch)wenden darf. Das Buch "überkomplex" zu nennen, käme einer krassen Simplifikation gleich.

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Friese ist auch sonst keineswegs allein. Beispielsweise porträtieren jetzt gleich zwei voluminöse Biographien von Wolfgang Hädecke und Gerhard Schulz – letzterer mit einer erweiterten Neuausgabe seines Monumentalwerkes – Leben und Werk des Nachtmystikers und Nachthymnikers der deutschen romantischen Literatur: Friedrich von Hardenberg, der sich selber nach der alten, allzu lange dauernden Lichtherrschaft des Aufklärungszeitalters "Novalis", das ist "der Neuland Bebauende und Säende", nannte. An Nacht also kein Mangel. So scheint es jedenfalls.

Doch gleichzeitig gilt: So wenig Nacht wie derzeit war selten. Als Belege können mehrere, freilich nur bedingt poetische, mystische und hymnische Ansichten von der Lichtseite der Nachtwissenschaft dienen. Als signifikantes Kuriosum könnte man noch den knolligen Einfall des russischen Ingenieurs Alexander Lavrynov abtun, den Weltraum mit satellitengestützter Reklame zu erleuchten. Der US-Astro-Immobilien-Makler Dennis Hope ist unterdessen schon dabei, mit seiner Firma "Lunar Embassy" die lunaren Immobilienrechte als reale Basis für die Reklame-Nutzung des Weltalls zu offerieren.

Weit gravierender ist allerdings die erdgestützte, die sozusagen normale Lichtverschmutzung des nächtlichen Himmels. Sie ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich der tschechische Astronom Jan Hollan vom Niklas-Copernicus-Observatorium in Brno mit der amerikanischen Dark Sky Association verbünden musste, den Feinden der Nacht eine gesetzgeberisch zu verankernde Lichthygiene entgegenzustellen. Die Hochkonjunktur des Themas "Nacht" hat also ihren folgerichtigen, kompensatorischen Sinn. Die Dämmerung, in der nach der vielzitierten Einsicht des eigentlich illuminationsfreundlichen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel philosophische Nachtvögel ihren Flug beginnen, droht selber zu verdämmern.

Frieses "Ästhetik der Nacht" ist auf diesem Hintergrund von beträchtlicher Aktualität. Das Riesenwerk ist ungeheuer belesen und immer wieder anregend. "Ästhetik" meint dabei nicht primär eine Lehre vom Schönen, sondern im alten Sinn des Begriffs die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Vorstellungen der Nacht. In der nur hundertseitigen Vorrede bietet Friese zunächst ein instruktives "Spotlight" auf "die historischen Veränderungen des ästhetischen Nachtprogramms in den westlichen Städten".

Die zeitlich uneingeschränkte Zirkulation des Börsenkapitals etwa, die unablässige Computerisierung, die grenzenlose ewige Gegenwart von Bildschirmen, die keine Rettungsschirme sind, die Idee der Globalisierung überhaupt zielen auf die Aufhebung der Nacht, die nur noch als "Tod des Geschäfts" verstanden wird. Die Schichtarbeit hat damit begonnen, die Grenzen der Nacht aufzuheben. Die Elektrifizierung hat das nachtfeindliche Programm fortgesetzt. Und nun gilt: "Ebay ist immer".

Hier hätte eine katastrophisch zugespitzte Kulturgeschichte der Nacht fortfahren können. Statt dessen zieht Friese es vor, auf den Spuren einer romantischen Nachtpsychologie die Geschichte der äußeren Nacht aus der "Dunkelheit in uns, der Prädominanz der inneren Nacht" zu rekonstruieren: Ein Programm, das ein gewisses Interesse finden kann, aber nur bedingt eine angemessen dissonante Geschichte der Nacht im Zeitalter ihres Verschwindens bietet. Auch fast vierhundert Seiten über Hesiods "Theogonie" können das nicht kompensieren.

Und auch die anschließenden Ausführungen über den "Nachtleib", die "Nachtsprache" und das "Nachtbild", über Schlaf, Traum und Rausch, und ein besonders anregendes Kapitel über das Nachtmahl spinnen das romantische Thema eher fort, als dass sie den Stand der nachtfeindlichen modernen Nachtgeschichte reflektierten. Auf sie hätte diese "Kulturgeschichte der Nacht" mehr Licht werfen können.
– Heinz-Gerhard Friese: Die Ästhetik der Nacht. Eine Kulturgeschichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 1308 Seiten, 49,95 Euro.

Autor: Ludger Lütkehaus

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