«Die Alternative war, beide sterben zu lassen»

Die Trennung der siamesischen Zwillinge Lydia und Maya machte gestern als «Wunder von Bern» Schlagzeilen. Ist es angezeigt, von einem Wunder zu reden?
Nun, aus meiner Sicht liegt sicher kein Wunder vor. Die Trennung der beiden miteinander verwachsenen Kinder war aus zwei Gründen möglich. Einerseits war die Art der Verbindung grundsätzlich trennbar. Anderseits glückte der komplexe medizinische Eingriff, weil wir Fachleute der verschiedensten Disziplinen gut einbinden konnten. Funktioniert das Zusammenspiel aller auch bei einer derart seltenen Operation, kann sie eben gelingen. Für mich ist der Fall eher ein Beleg dafür, was ein gut funktionierendes System schaffen kann.

Gleichwohl: Noch nie wurden so kleine Kinder getrennt. Auf Erfahrungen anderer konnten Sie nicht zurückgreifen.
Das stimmt. Wir kennen keinen vergleichbaren Fall: Offenbar gabs zuvor noch nie eine Trennung so kleiner Zwillinge. Dass die Kinder noch sehr klein waren, war eine grosse Herausforderung. Sie wogen bei der Geburt bloss 1100 Gramm. Und bei der Trennung waren sie erst eine Woche alt. Wir mussten sie aber so früh trennen, weil sie sonst nur Tage später gestorben wären. Wir stellten nämlich eine bedrohliche Kreislaufsituation fest: Es floss sehr viel Blut vom einen zum andern Kind. Das hätten beide nicht lange überlebt. Ansonsten lag die grösste Herausforderung wie bereits erwähnt darin, so viele Chirurgen und Pflegende der verschiedensten Disziplinen rechtzeitig vor Ort zu haben.

Wurde die Überlegung angestellt, die Zwillinge früher, bereits im Mutterleib, zu trennen?
Das hat noch nie jemand geschafft. Das Ziel bei siamesischen Zwillingen ist ja zunächst einmal, sie drei bis fünf Kilogramm schwer werden zu lassen, und die Trennung dann zu versuchen. Man versucht nicht möglichst früh, sondern möglichst spät zu trennen. Diese Möglichkeit hatten wir nicht. Weil sich der Gesundheitszustand der Kinder verschlechtert hatte, mussten wir unverzüglich handeln. Ganz so schnell geht das allerdings doch nicht: Wir mussten erst die Anatomie der Zwillinge kennen lernen.

Das Inselspital selbst spricht von einer «medizinischen Sensation» und einer «erfolgreichen Trennung». Worin liegt der Erfolg? Sind die Perspektiven der Kleinen denn so gut?
Der vordergründige Erfolg ist natürlich, dass beide Kinder überlebt haben. Auf lange Sicht ist der Erfolg daran zu messen, ob beide ein normales Leben haben können. Das muss man bei so kleinen Frühgeborenen natürlich immer vorsichtig beurteilen. Aber jetzt sind sie doch schon zwei Monate alt, und wir gehen davon aus, dass sie gute Überlebenschancen haben.

Stellen sich Ihnen vor dem Eingriff auch ethische Fragen?
Selbstverständlich stellen sich da ethische Fragen, allein schon, weil wir uns in einem Bereich der Medizin bewegen, in dem wir wenig Erfahrung haben. Wir haben es schliesslich so betrachtet: Die Eltern wollen grundsätzlich, dass die Kinder geboren werden – und wir haben gesehen, dass man die Kinder aufgrund ihrer Anatomie grundsätzlich trennen kann. Ab dem Moment, wo die frühe Trennung die einzige Überlebenschance bot, stellte sich uns aber eigentlich keine ethische Frage mehr. Die einzige verbliebene Alternative zur Trennung wäre gewesen, die beiden Kinder sterben zu lassen. Hätte man bereits vor der Geburt gesehen, dass die verbundenen Kinder nicht werden leben können, hätten sich ganz andere Fragen gestellt.

Die beiden Kinder waren grossflächig an der Leber zusammengewachsen. Haben denn jetzt beide voll funktionsfähige Organe?
Wir wissen schon sicher, dass die Leber beider Kinder gut funktioniert. Beide werden inzwischen auch normal ernährt und haben ihr Gewicht verdoppelt.

...und beide bleiben auf lange Sicht abhängig von der Medizin?
Das eine Mädchen kann voraussichtlich in den nächsten Wochen nach Hause. Das andere ist noch immer auf der Intensivstation. Es hat einen Herzfehler, der in einigen Monaten operiert werden muss. Bei ihm dürfte noch eine längere Behandlung notwendig sein, beim bereits entlassenen Kind vermutlich nicht.

Die Trennung der Zwillinge glückte vor sieben Wochen. Publik wurde sie gestern. Plagte Sie so lange der Zweifel am Erfolg der Operation?
Nein, wir waren schon kurz nach der Operation recht sicher, dass die beiden überleben würden. Aber für die Eltern war die ganze Situation eine enorme Belastung. Aus Rücksicht auf die Eltern warteten wir zu, bis sich der Zustand der Kinder stabilisiert hatte.

Lydia und Maya sind das «Ergebnis» einer künstlichen Befruchtung. Künstlichen Befruchtungen führen überdurchschnittlich häufig zu Mehrlingsgeburten – und somit auch häufiger zu siamesischen Zwillingen?
Das Risiko von Mehrlingsgeburten ist bei jeder Art von künstlicher Befruchtung allgemein bekannt. Das Risiko siamesischer Zwillinge bleibt gleichwohl sehr klein.

Und welches sind denn nun die Folgen der «medizinischen Sensation» fürs Inselspital: ein Prestigeerfolg im grossen Spitalwettbewerb?
Direkte Auswirkungen auf die Insel erwarte ich nicht. Es ist einfach ein Fall, der zeigt, wie komplex die Zusammenhänge bei Kindern ist, die in einem Perinatalzentrum behandelt werden. Zudem steht für uns jetzt die wissenschaftliche Pflicht im Vordergrund, unsere Erfahrungen im Umgang mit dem doch sehr seltenen Fall publik zu machen. Sollten Kollegen in fünf oder zehn Jahren auf einen vergleichbaren Fall treffen, sollen sie auf unsere Erfahrung zurückgreifen können.

(Der Bund)

(Erstellt: 31.01.2016, 22:41 Uhr)

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