Der Mikrokatheter, der Leben rettet

Es hatte ihr die Sprache verschlagen – im Wortsinn: Ihr war schwindlig, aber sie konnte es nicht sagen. Zudem war die gesamte rechte Körperseite der 50-jährigen Frau gelähmt, als sie in die Stroke-Unit des Kantonsspitals Neuenburg eingeliefert wurde. Ein klares Zeichen, dass bereits ausgedehnte Bereiche des Gehirns von der Blutzufuhr und damit auch von der Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen abgeschnitten waren. In solchen Fällen stehen die Aussichten auf Genesung schlecht, wenn nicht unverzüglich die Behandlung einsetzt.

Die Frau hatte Glück: Nachdem sie in Neuenburg die Standardbehandlung erhalten hatte, brachte die Ambulanz sie ins Stroke-Center am Berner Inselspital. Dort konnten spezialisierte Ärzte den Pfropfen aus geronnenem Blut, der die wichtigste Hirnarterie verstopfte, mit einem Spezialkatheter herausholen. Am Tag danach war die Patientin wieder voll beweglich und konnte sprechen. Nur eine leichte Wortfindungsstörung blieb.

Die Methode, Gerinnsel aus Blutgefässen im Gehirn mithilfe eines Mikro­katheters mit einem entfaltbaren Gittergeflecht an der Spitze zu entfernen, ist nicht ganz neu. Ihre Anwendung war jedoch teilweise umstritten, weil bislang nicht klar war, ob sie besser ist als die Standardbehandlung, die medikamentöse Auflösung des Blutklumpens. Doch Anfang Februar präsentierten Mediziner in den USA gleich drei grosse Studien, die der Kathetermethode einen eindeutigen Zusatznutzen bescheinigen.

Entscheidender Durchbruch

«Das ist ein entscheidender Durchbruch», sagt der Neurologe Marcel Arnold, Leiter des Stroke-Centers am Insel­spital. «Die Behandlung eignet sich zwar nur für einen Teil aller Schlaganfallpatienten. Aber für diesen muss sie nun zum Standard werden, denn in diesen Fällen kann sie Leben retten und schwerwiegende körperliche Einschränkungen verhindern.»

Jährlich erleiden rund 16 000 Menschen in der Schweiz einen Schlaganfall. Jeder fünfte Betroffene stirbt in den ersten Monaten. Und von den Überlebenden bleibt jeder Dritte infolge der erlittenen Schädigungen des Gehirns für den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen. Wie gut die Chancen jedes Einzelnen stehen, hängt wesentlich davon ab, wie viel Zeit zwischen dem ersten Auftreten der Symptome und dem Eintreffen im Spital verstreicht. Dort wird mittels Computertomografie als Erstes die Ursache geklärt: In 10 bis 15 Prozent der Fälle ist es ein geplatztes Blutgefäss, das zu einer Hirnblutung geführt hat. Bei der überwiegenden Mehrheit ist es eine Verstopfung durch ein Gerinnsel.

Die Diagnose entscheidet über das weitere Vorgehen. Liegt ein Gerinnsel vor, erhält der Patient so bald wie möglich ein Medikament, das wie ein Rohrreiniger im Haushalt wirkt: Es soll den Pfropfen auflösen, sodass wieder Blut durchfliessen kann. Die gewünschte Wirkung kann das Mittel jedoch nur entfalten, wenn diese «Lyse» binnen höchstens viereinhalb Stunden nach dem Beginn der Beschwerden erfolgt.

Bei vielen, insbesondere sehr grossen Gerinnseln vermag die Lyse allein nicht dagegen anzukommen. Hier kommt nun der Katheter ins Spiel: Ein Spezialist der Neuroradiologie schiebt einen feinen Schlauch von der Leiste her die Schlagader hoch und kann so das verstopfte Hirngefäss mechanisch befreien. Die Chancen, dass dies gelingt, stehen bei den meisten Patienten gut, wenn der Eingriff innerhalb der ersten sechs bis acht Stunden erfolgt.

Die Katheterbehandlung gibt es seit mehreren Jahren. Umstritten war sie bisher, weil frühere Studien zum Schluss gekommen waren, sie bringe keine wesentlichen Vorteile. Allerdings entsprachen die dabei verwendeten Katheter nicht dem jetzigen Stand der Technik. Seit Januar hat sich das Blatt gewendet: Da veröffentlichte das Fachjournal «New England Journal of Medicine» eine niederländische Studie unter der anspielungsreichen Abkürzung «Mr Clean».

Direkter Vergleich positiv

Dabei waren rund 500 Patienten nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt worden. Die Hälfte erhielt lediglich eine intravenöse Lyse, die andere zusätzlich eine Katheterbehandlung. Dieser Ansatz mit einer Test- und einer Kontrollgruppe gilt als «Goldstandard» für Therapiestudien, weil er den direkten Vergleich zwischen einem neuen und dem bisherigen Standardverfahren erlaubt. Das Ergebnis fiel so eindeutig zugunsten der katheterbehandelten Gruppe aus, dass in anderen laufenden Studien keine neuen Patienten aufgenommen wurden. Alle, die grosse Gerinnsel aufwiesen, sollten von der besseren Therapie profitieren können.

Drei weitere Studien wurden im Feb­ruar vorgestellt. Alle drei liefern harte Daten, nach denen das winzige Werkzeug die Zahl der Todesfälle vermindert und die Aussichten auf ein behinderungsfreies Leben massiv verbessert. An einer der Untersuchungen hatten 39 spezialisierte Hirnschlagzentren in Europa und den USA mitgearbeitet, so auch jenes am Berner Inselspital. Wie Marcel Arnold berichtet, kann von den katheterbehandelten Patienten über die Hälfte ihren Alltag wieder ohne fremde Hilfe bewältigen. In der Gruppe, die ausschliesslich die standardmässige Lyse erhalten hatte, traf dies lediglich auf etwa ein Viertel bis ein Drittel zu.

«Wir haben die Methode bereits seit 2009 an über 700 Patienten mit guten Erfolgen angewendet», bilanziert Arnold. Auf der Grundlage der Studien­resultate gelte es jetzt dafür zu sorgen, dass in den Stroke-Units, die es an insgesamt 13 Spitälern in der Schweiz gibt, jene Hirnschlagpatienten, die für eine Katheterbehandlung infrage kommen, sorgfältig ausgewählt werden und nach angesetzter Lysebehandlung so rasch wie möglich an eines der insgesamt neun Schweizer Stroke-Centers verlegt werden. Denn nur dort ist rund um die Uhr ein auf Neuroradiologie spezialisierter Arzt im Dienst, der den komplexen Eingriff vornehmen kann. Ob die Ver­legung im Rettungswagen oder im Helikopter geschieht, sei egal – Hauptsache schnell, sagt Marcel Arnold, denn: «Die Zeit ist weiterhin entscheidend für den Ausgang.»

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 10.04.2015, 23:25 Uhr)

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