Der Memory-Effekt im Gehirn

Ob im Supermarktregal oder am eigenen Schreibtisch: Ob wir finden, was wir suchen, hängt von vielen Faktoren ab

Welche Rolle das Gedächtnis dabei spielt, untersuchen Psychologen mit praktischen Experimenten.

* * *

Man kennt das: Man steht vor dem Kühlregal des Supermarktes und sucht erst
den Mozzarella, dann den Topfen und schließlich die Milch. Sie alle sitzen mehr
oder weniger am selben Ort, allerdings nicht allein: Jede Menge anderer Waren
beansprucht unsere Aufmerksamkeit und lenkt uns vom Gewünschten ab, sodass wir
die einzelnen Stellagen öfter durchschauen müssen, bis wir finden, was wir
eigentlich wollen.

Dabei stellt sich oft ein Memory-Gefühl ein: "Das habe ich doch gerade
gesehen - aber wo ist es jetzt?" Der Frage, wie wir Dinge bei wiederholter
visueller Suche aufspüren, ging Christof Körner vom Institut für Psychologie der
Universität Graz mit britischen Kollegen in einem vom österreichischen
Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt nach.

In den vergangenen dreißig Jahren wurde über das Thema viel geforscht, doch
in erster Linie unter sehr künstlichen Bedingungen: Die Probanden wurden dabei
bei jedem Durchgang mit einem Set von Objekten auf einem Bildschirm
konfrontiert, in dem sie jeweils eines entdecken sollten. Dabei führten
vorherige Suchdurchgänge nicht dazu, dass Gegenstände schneller gefunden
wurden.

Allerdings haben solche Aufgaben mit dem wirklichen Leben wenig zu tun. In
der Realität bleibt die Umgebung meist stabil, während sich unsere Aufgaben
darin ändern: So ist etwa unser Schreibtisch den ganzen Tag lang gleich
chaotisch, aber einmal suchen wir den Locher, ein anderes Mal den Tankbeleg und
vor der Heimfahrt die Autoschlüssel. Gewöhnlich finden wir alle diese Objekte
letztendlich - die Frage ist nur, wie lange es dauert. Unklar war bisher,
inwieweit wir bei solchen Aufgaben das Gedächtnis zu Hilfe nehmen.

Kellner-Gedächtnis

Schon seit langem ist in der Psychologie ein Phänomen bekannt, das "change
blindness" (Blindheit gegenüber Veränderungen), vulgo auch " Schaffner- oder
Kellner-Gedächtnis" heißt: Dabei werden selbst große Veränderungen einer Szene
nicht wahrgenommen, solange die Anordnung der Objekte beibehalten wird und die
Versuchsperson den Wechsel nicht ansieht.

Nehmen wir zum Beispiel ein teilweise besetztes Lokal oder Zugabteil. Bleiben
immer dieselben Plätze besetzt, merkt der Proband oft nicht, wenn die Gäste
ausgetauscht werden - und zwar selbst dann nicht, wenn er mit den betreffenden
Personen gesprochen hat.

Wenn es um visuelle Aufgaben geht, ist unser Gedächtnis also nicht
notwendigerweise aktiv. Wie ist das aber nun, wenn wir unseren Schreibtisch oder
das Milchregal absuchen? Christof Körner und sein britischer Kollege Ian
Gilchrist boten Versuchspersonen eine echte Tischplatte, auf der sie unter den
immer gleichen, aber immer neu angeordneten 38 Objekten in zwei Durchgängen
jeweils ein anderes möglichst rasch finden sollten. Die Probanden trugen dabei
eine Vorrichtung auf dem Kopf, die sowohl Videoaufnahmen von der Umwelt als auch
die eigene Augenposition aufzeichnete.

In insgesamt mehr als 500 Durchgängen stellte sich heraus, dass bei einer
solchen Aufgabenstellung sehr wohl mit dem Gedächtnis gearbeitet wird. Die
Teilnehmer fanden ein Zielobjekt bei der zweiten Suche deutlich schneller, wenn
sie es bei der ersten Suche schon einmal visuell fixiert hatten: Sie mussten
dann nämlich nur durchschnittlich 3, 5 Objekte anschauen. Dagegen brauchten sie
sechs, wenn sie das spätere Zielobjekt im ersten Durchgang nicht bewusst
wahrgenommen hatten. Offenbar werden auch Dinge, die gerade nicht im Zentrum des
Interesses stehen, vorübergehend im Kurzzeitgedächtnis gespeichert.

Dabei zeigt sich ein Phänomen, das charakteristisch für das
Kurzzeitgedächtnis ist, nämlich der sogenannte Rezenzeffekt: Je kürzer der
Eingang einer bestimmten Information zurückliegt, desto höher ist die Chance,
sich daran zu erinnern. Das zeigten Körner und Gilchrist in weiteren
Suchexperimenten, bei denen die Erinnerung an ein schon einmal gesehenes Objekt
mit jedem dazwischen angeschauten Ding rapide sank. Das mag uns in der Praxis
manchmal ärgern, ist aber auf längere Sicht eine gute Idee: Würden solche
Informationen länger gespeichert, kämen sie uns bei neuen Suchvorgängen leicht
in die Quere.

Energiesparmodus

Bleibt noch die Frage, warum das Gedächtnis bei manchen Suchexperimenten am
Bildschirm keine Rolle spielte. "Es mag damit zu tun haben", führt Körner aus,
"dass Menschen erst dann das Gedächtnis bemühen, wenn es sich auszahlt. Sie
wechseln also möglicherweise erst dann zu einer gedächtnisbasierten Strategie,
wenn sie sicher sind, dass die Versuchsanordnung immer gleich bleibt, was bei
der Bildschirmvariante nicht so sicher ist."

Wenn Sie also das nächste Mal im Kühlregal den Rahm nicht gleich finden,
ärgern Sie sich nicht: Ihr Gehirn fährt gerade eine energiesparende Strategie. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.02.2012)

Leave a Reply