Thilo Thiele
Neulich habe ich einen interessanten Artikel gelesen. Es geht darin um entgrenzte Menschen, genaugenommen „um die sozial-psychologische Erklärung des Phänomens, dass immer mehr Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln von dem Wunsch geleitet werden, Grenzen zu beseitigen und dass dieses psychische Entgrenzungsstreben vor der eigenen Persönlichkeit nicht Halt macht“. (*)
Ich verstehe nicht viel von Psychologie, aber das hörte sich interessant an. Daß „ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht“, wie der Autor Rainer Funk behauptet, leuchtet mir ein. Auch Pippi Langstrumpf ist nur deshalb in die Schule gegangen, um Ferien zu bekommen. Zudem weckte der Artikel in mir irgendwelche vagen Erinnerungen an bestimmte Knalltüten aus der Politik, aber ich wußte partout nicht an wen.
Meinte ich vielleicht Idi Amin? Der hatte die Bodenhaftung verloren und sich irgendwann „Herr über alle Tiere der Erde und Fische des Meeres, Eroberer des Britischen Reiches in Afrika im Allgemeinen und Uganda im Besonderen“ genannt. Mit ihm waren schon ziemlich früh die Gäule durchgegangen, und er hatte sich von seinen weißen Untertanen auf einer Sänfte durch Kampala tragen lassen. Das konnte man sicher schon Entgrenzung nennen. Ich war mir aber unsicher und las weiter.
Im Kern, schreibt Funk, seien die Entgrenzten egozentrisch: „,Ich-orientiert‘ deshalb, weil solche Menschen von einem starken Verlangen angetrieben werden, frei von allen Vorgaben und Maßgaben selbst bestimmen zu wollen, was Wirklichkeit ist – und zwar die Wirklichkeit, die sie umgibt, aber auch die Wirklichkeit, die sie selbst sind.“ Diese Orientierung folge einem radikalen Konstruktivismus: „Es gibt nichts, was es nicht gibt, und deshalb geht alles. Und alles, was geht, ist okay.“ Keiner habe deshalb das Recht zu sagen, was gut oder böse, richtig oder falsch, gesund oder krank, echt oder unecht, realitätsgerecht oder illusionär sei: „Ein erster Charakterzug ist eine auffällige Lust am ,Machen‘ und ,Managen‘.“
Jean Bedel Bokassa aus der Zentralafrikanischen Republik war ein anderer Kandidat. Der hatte bestimmt auch selber bestimmen wollen, was die Wirklichkeit ist, ohne sich um die Realität zu scheren, und eine auffällige Lust am Machen und Managen hatte er wohl auch. Er war ein großer Verehrer von Napoleon, und 1976 ließ er sich im Dschungel zum Kaiser krönen. Aber meinte ich wirklich Bokassa? Der war schon so lange tot und spukte nur noch selten durch meine Gedanken.
Funk: „Für den aktiven Typus resultiert ein soziales oder politisches Engagement weder aus einem Pflichtgefühl noch aus einer Verbindlichkeit ... Die entscheidenden Motive sind ... vor allem, etwas machen und bewirken zu können, also soziale und politische Wirklichkeit neu schaffen zu wollen. Dies gilt ... auch für den politischen Aktionismus. Jeder Einsatz für andere dient dabei zugleich der Selbstverwirklichung.“
Die Namen entgrenzter Politiker schossen mir nun nur noch so durch den Kopf: der dicke Kim Jong Un, Robert Mugabe, der verrückte Präsident von Gambia, Yahya Jammer.
Mit der Entgrenzung werde es immer schlimmer, meint Funk: „Die überwältigenden Errungenschaften im Bereich digitaler Technik und elektronischer Medien sowie der Vernetzung haben eine bisher kaum vorstellbare Entgrenzungsdynamik in Gang gesetzt, die inzwischen sämtliche Forschungs- und Lebensbereiche verändert hat. Digitale Technik und elektronische Medien sind eine wesentliche Voraussetzung für die gegenwärtige Entgrenzung von Raum und Zeit, für einen sekundenschnellen Wissens- und Informationstransfer.“
Irgendwann nickte ich ein und träumte. Die Lektüre mußte mir zugesetzt haben, es war war ein ziemlich wirrer Traum: Eine Frau im Hosenanzug behauptete, sie sei Bundeskanzlerin und habe alle Atomkraftwerke abgeschaltet. Jetzt gebe es keine Grenzen mehr, man könne sie nicht mehr sichern. Sie knuddelte irgendwelche Araber für Handy-Fotos und meinte, man könne den Zuzug nicht mehr steuern, alle seien jetzt willkommen. Um ein Haar hätte sie dafür den Friedensnobelpreis bekommen.
Neben ihr stand eine andere Frau im Hosenanzug, angeblich ihre beste Freundin. Die andere Frau sagte, sie sei Verteidigungsministerin. Die Gewehre würden aber nicht mehr richtig schießen, und in den den Bundeswehrkasernen würden jetzt Kinderkrippen eingerichtet. Dann überschlugen sich die Traumbilder: Die Handyfotos gingen um die Welt. Millionen von Menschen machten sich von überall her auf den Weg in dieses Wunderland. An den Bahnhöfen wurden sie mit Teddybären beworfen. Im Mittelmeer sanken ihre Schiffe.
Dann wachte ich schweißgebadet auf. Ich schaltete den Fernseher ein, es liefen Nachrichten. Die Frau im Hosenanzug sagte, wenn uns das alles nicht passe, sollten wir häufiger in die Kirche gehen.