Der Ein-bisschen-Relativist

Seine ersten Bücher schrieb Martin Kusch auf Finnisch - Nun ist der in jeder Hinsicht weit herumgekommene Philosoph Professor an der Universität Wien - Seine Antrittsvorlesung wird er dem Relativismus widmen

Letztlich war Immanuel Kant daran schuld, dass der gebürtige Leverkusener Martin Kusch in jungen Jahren in Finnland landete. Da er in seiner Heimat den Dienst an der Waffe verweigern wollte, musste er sich vor einer Kommission rechtfertigen.

"In meinem Fall bestand die aus einem pensionierten Bundeswehroffizier, einem Tankstellenbesitzer und einer Hausfrau", erinnert sich Kusch in der Mensa im Neuen Institutsgebäude der Uni Wien schmunzelnd: "Ich begründete mein Anliegen mit dem kantischen Imperativ - und wurde von den drei Mitgliedern prompt als geistig unreif eingestuft."

Kusch musste also weg aus Deutschland, ging nach Israel, um in einem Kibbuz zu arbeiten - und traf dort eine Finnin. Mit der ging es, weil er in Deutschland Persona non grata war, nach Finnland, wo er in Jyväskylä, Oulu und in Helsinki Philosophie studierte.

Seine Dissertation schrieb er beim berühmten Philosophen und Logiker Jaakko Hintikka auf Englisch, seine nächsten zwei - darunter eines mit Hintikka - auf Finnisch. Und es lag wohl auch an seinem international renommierten Doktorvater, dass Kuschs Karriere nicht in der finnischen Provinz endete, sondern ihn an etliche Universitäten rund um den Globus und weit über die Philosophie hinaus führte.

Von der Philosophie ...

Die Beschäftigung mit Michael Foucault brachte den heute 52-Jährigen zunächst zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie. Dann landete er an der Universität Edinburgh bei einer Gruppe einflussreicher Soziologen. Und bevor er als einer der ersten Professoren aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland an das Institut für Philosophie der Uni Wien berufen wurde, hatte er in Cambridge einen Lehrstuhl für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftssoziologie.

Diese Fächer mögen manche für einigermaßen entbehrlich halten: "Wissenschaftstheorie nützt Wissenschaftern ähnlich viel wie die Ornithologie den Vögeln", ätzte der verstorbene Physiker Richard Feynman einmal. Kusch braucht man nicht lange um Gegenargumente zu bitten: "Zum einen wird es wohl noch gestattet sein, eine der wichtigsten Institutionen der modernen Gesellschaft philosophisch, soziologisch oder historisch untersuchen dürfen. Sonst dürfte man das auch nicht mit der Wirtschaft oder der Kirche tun." Und wenn viele Forscher glauben, selbst am besten zu wissen, wie es in der Forschung zugeht, dann stimme das in vielerlei Hinsicht einfach nicht.

Zum anderen verweist Kusch darauf, wie wichtig Philosophie in allen möglichen wissenschaftlichen Disziplinen sei, und belegt das mit Selbsterlebtem: "Ich habe einmal für ein Jahr am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung gearbeitet, und da gab es überhaupt keine Grenzen zwischen der experimentellen Arbeit der Psychologen und meinem Interesse an der Psychologie aus philosophischer und soziologischer Perspektive."

... zur Wissenssoziologie ...

Sein aktuelles Hauptarbeitsgebiet bezeichnet der Philosoph, der keine fachlichen Berührungsängste hat, als "soziale Epistemologie". Das klingt komplizierter, als es ist: "Dabei geht es einfach darum, Wissen als soziales Phänomen zu verstehen, und das kann man eben auch auf philosophische Weise machen."

Unter Kuschs mittlerweile acht Büchern finden sich aber auch soziologische und historische Fallstudien - so etwa zur Frage, wie es kam, dass die Psychologie ein eigenes Fach wurde. "Denn noch vor 150 Jahren war die nämlich bloß ein Teil der Philosophie."

Doch nicht nur der historische Blick zurück auf die Disziplinen führt in vielen Fällen zu überraschenden Perspektiven. Noch irritierender mag für viele Naturwissenschafter eine andere, wissenschaftssoziologische Forschungsstrategie sein, die in Edinburgh praktiziert wurde und der auch Kusch einiges abgewinnt: "Man schaut sich dabei wissenschaftliche Kontroversen an - etwa zwischen der Evolutionsbiologie und dem Kreationismus - und versucht zu erklären, woran es liegt, dass sich in einem besonderen Kontext die eine Ansicht durchsetzt und nicht die andere."

Das Irritierende dabei ist, dass sich die untersuchenden Forscher nicht einfach den Evolutionsbiologen anschließen und sagen: "Diese Theorie ist wahr, und deshalb unterliegt der Kreationismus." Ein relativistischer Wissenschaftssoziologe sagt stattdessen: "Wir wollen die sozialen Prozesse verstehen, warum sich etwas durchsetzt, und nicht von vornherein davon ausgehen, dass sich die Theorie durchsetzt, weil sie richtig ist."

Allgemein gesprochen, ist der Relativismus die Ansicht, dass es schuldlose Meinungsverschiedenheiten geben kann. Bei Geschmacksfragen ist das nicht umstritten: dem einen schmeckt Kohlrabi, dem anderen nicht - und keiner von beiden muss sich irren. Ob dies aber auch für wissenschaftliche Theorien gilt? Kusch sagt zwar, er sei "ein bisschen Relativist", will sich aber ansonsten nicht festlegen lassen. Es geht ihm vor allem darum, Argumente für und gegen den Relativismus zu untersuchen.

... und wieder zurück

Nächste Woche wird Kusch seine Antrittsvorlesung über diese nicht ganz einfache Denkfigur halten, deren verschiedene Spielarten immer wieder in Misskredit gerieten. So warnte sogar Papst Benedikt XVI. vor einigen Jahren vor der "Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt". Und auch Kusch will mit sehr dummen Spielarten des Relativismus nichts zu tun haben - zumal die Nationalsozialisten den Begriff für ihre Zwecke irrationalistisch und rassistisch umdeuteten.

Mit der Geschichte des Begriffs beschäftigt sich auch ein aktuelles Forschungsprojekt von Kusch, das ihn übrigens wieder zurück zu Immanuel Kant führt. Überraschenderweise sei der Relativismus relativ jung: "Um 1800 gab es den Begriff noch gar nicht, um 1900 ist er überall zu finden."

Laut Kusch versuchten die aufstrebenden naturwissenschaftlichen Disziplinen aber auch die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, die kantischen Kategorien - Zeit, Raum und Kausalität - wissenschaftlich zu deuten. Dabei zeigte sich, dass man die Welt aber auch mit anderen Augen wahrnehmen kann oder dass sich auch unsere grundlegendsten Begriffe historisch wandeln.

Mit anderen Worten: Der Relativismus kam nicht zuletzt durch jene Wissenschaften in die Welt, deren Erben ihn heute so sehr verachten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. Februar 2012)


Öffentliche Antrittsvorlesung am 2. März, 17 Uhr, Kleiner Festsaal der Uni Wien

Link
Martin Kusch - University of Vienna

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