"Das Problem liegt im Produktivitätswahn"

ZEITjUNG: Herr Schleim, Sie sind Assistenz-Professor für die Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen. Vor nicht all zu langer Zeit waren Sie aber selbst noch Student. Haben der Stress und die Anforderungen an die Studenten zugenommen?

Stephan Schleim: Es ist sehr schwierig, Stress zu messen. Was man aber auf jeden Fall sagen kann, ist, dass von den Universitäten sehr viel mehr Regeln vorgegeben sind, verglichen mit der Zeit, als ich studierte. Das war in der Endzeit der Diplom- und Magisterstudiengänge. Es gibt seither mehr Zeitdruck, man ist bedroht durch zusätzliche Zahlungen, wenn man zu lange studiert. Ich denke schon, dass dadurch der Druck größer auf den Studenten lastet, so schnell wie möglich fertig zu werden. 

Sehen Sie daher die Bachelor-Studiengänge kritisch?

Ich sehe das sehr kritisch. In der Zeit, als die Bachelor-Studiengänge entstanden, war ich als Studentenvertreter aktiv. Sehr viele Befürchtungen, die wir damals hatten, haben sich bewahrheitet. Von den Vorteilen, die man versprochen hat, habe ich noch nicht so viele gesehen. Ich sehe nur, dass die Lehre sehr stark vorstrukturiert ist, dass es weniger Freiheiten und für die Studierenden weniger Möglichkeiten gibt, sich auszuprobieren. Diese Dinge gehören aber, meiner Meinung nach, zum Studium essentiell dazu. 

Wie viele Studenten nutzen deshalb bewusst Ritalin und andere Mittel zur Leistungssteigerung für ihr Studium? 

In Deutschland gibt es nicht viele Daten dazu. Ich würde dabei aber auf die Lage in den Vereinigten Staaten verweisen, weil man oft sagt, dass die USA in diesem Bereich etwas weiter sind als wir. Dort gibt es zahlreiche Untersuchungen. Wenn man diese aber richtig liest, kommen Zahlen heraus, die nicht sehr hoch sind. Die repräsentativste Studie zur Einnahme von verschreibungspflichtigen Stimulanzien wie Ritalin oder Vigil zu nichtmedizinischen Zwecken weist eine Quote von circa zwei Prozent auf. Bei der Frage, ob man diese Medikamente überhaupt schon einmal ausprobiert hätte, kommt man auf circa acht Prozent. Das heißt natürlich nicht, dass diese Leute das regelmäßig nehmen oder sie die Leistung steigern wollen. Manche nehmen es, um Gewicht zu verlieren, oder um es als Droge zu konsumieren. 

Ist die Hemmschwelle zur Einnahme von Medikamenten allgemein gesunken?

Wir untersuchen auch gesamt-gesellschaftlich, wie der Umgang mit Medizin ist. Man kann einen Trend beobachten, dass man seine Identität stärker von Körper und Gehirn abhängig macht. Und damit geht vielleicht eine etwas höhere Bereitschaft zu Eingriffen in diesen Domänen einher. Ich glaube aber, dass die Mehrheit der Menschen auch aufgrund der Erfahrungen mit Nebenwirkungen nicht alles schluckt, was man ihnen vorgibt. Aber es gibt immer mehr Lifestyle-Use wie Viagra oder Mittel zum Abnehmen. 

Ritalin und Vigil sollen die gängigsten Aufputschmittel sein. Wie kann man ihre Wirkung beschreiben?

Ich bin weder Pharmakologe noch habe ich diese Mittel je konsumiert. Generell gehören diese Substanzen zur Klasse der Stimulanzien. Man kann sie durchaus mit anderen Stimulanzien, die wir alle kennen, wie Koffein, vergleichen. Allerdings wirken diese Substanzen etwas stärker. Es gibt immer wieder Leute, die berichten, dass sie problemlos damit eine Nacht durcharbeiten konnten. Es gibt aber auch andere, die danach nicht mehr einschlafen können, weil sie so aufgedreht sind. Boris Quednow, ein Experte aus der Psychopharmakologie, hat eine These aufgestellt, dass diese Stimulanzien gar nicht direkt unser Denken verbessern, sondern nur unsere Motivation zum Denken. Das würde bedeuten, dass wir durch diese Mittel nicht schlauer werden, sondern nur länger durchhalten. So würde es sich mehr um Motivations- als um Denkpillen handeln. 

Wie gefährlich sind Ritalin und Co.? Lesen Sie weiter!

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