Von Psychologie aktuell Gastautor Adrian Sächsing.
„Halbgötter in Weiß" werden Ärzte immer noch genannt, so mancher ist jedoch ein sturer Bock in Schwarz - und das ist ein Problem. Denn überall wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht, auch in Kliniken und Praxen.
Dennoch hält sich bei vielen Medizinern der seltsame Glaube, alles zu können und zu wissen. Diese Haltung nimmt zwar bei jüngeren Ärzten zunehmend ab, doch sie ist noch da, in voller Breite.
Alleskönner vom Dienst?
Wüsste ein einziger Arzt alles über sein Fachgebiet, wäre dies der erste Berufsstand, in dem man solche Wundermenschen antrifft. Auch was logisch-deduktives Denken angeht, wird dieses in der Diagnostik bisher kaum gelehrt.
Vielmehr besteht das Medizinstudium immer noch aus zu vielen Fakten und Denkschablonen. Doch was, wenn ein Patient nicht in eine dieser Schablonen passt? Dann kann es ganz schnell gehen mit einer Fehlbehandlung.
Es trifft doch in 95% der Fälle zu
„Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten", lernen Medizinstudenten von ihren Professoren. Kommt also ein dicker Mann in die Sprechstunde und hat einen Cholesterinwert jenseits von Gut und Böse, dann sagt die Schablone: Der isst zu viel.
Setzen wir ihn auf Diät, dann wird das schon. Mag in 99,5% der Fälle auch stimmen, doch könnte ausgerechnet dieser Mann eine Fettstoffwechselstörung haben, wegen der er so fett geworden ist. Klar, ist super selten, aber manchmal sind Ursache und Wirkung auch in der Medizin vertauscht!
Doppelseitig belastet?
Typisch auch der Fall einer 50-Jährigen, der auf einem Kongress in Österreich vorgestellt wurde: Die Dame entwickelte eine Depression und paranoide Gedanken. Klarer Fall, ab zur Psychotherapie. Es wurde trotzdem schlimmer, ab in die Reha. Es wurde weiter schlimmer, Einlieferung in die Psychiatrie.
Inzwischen ging man von einer "Schizoaffektiven Störung" aus. Stimmt bei dem vorgestellten Symptombild auch in über 90% der Fälle. Doch diese Frau litt in Wirklichkeit an einem "doppelseitigen Thalamusinfarkt" (Schlaganfall), der sich tatsächlich auch mal fast rein psychiatrisch auswirken kann.
Schablonen oder Realität?
In beiden Fällen, dem dicken Mann und der Schlaganfallpatientin, gab es weitere geringe Symptome, die ein Hinweis hätten sein können. Aber sie „flackerten" zu mild auf und lagen außerhalb der üblichen Schablonen. Logisches Denken hätte weiterhelfen können. So hatten zwei Cousins des Fettleibigen mit unter 40 Jahren jeweils zwei Bypässe benötigt, da ihre Adern verstopft waren - bei mehr oder weniger normalem Körpergewicht!
Und die Patientin mit dem Thalamusinfarkt hatte ein wiederkehrendes Kribbeln in Lippe und Zunge. Eigentlich müssten auch in der Medizin alle Fakten detektivisch zusammengetragen und dann im Gesamtzusammenhang ausgewertet werden. Doch es dominiert in vielen Praxen weiter das Arbeiten in Schablonen.
Zeigt Patient „A" das Symptom „B", dann hat er wohl die Diagnose „C" - und um das sonderbare Symptom „Y" soll sich der Kollege „Z" kümmern, denn es liegt außerhalb der eigenen Zuständigkeit.
Denken in Kontexten
Eine ganz besonders häufige Fehlerquelle ist eine Fehlhandhabung von Kontexten. Ein simples Beispiel: zwei Bauarbeiter werden schwerhörig. Klarer Fall, Berufskrankheit, zu viel mit lauten Maschinen gearbeitet. Macht Sinn, passt, Fall erledigt. Oder doch nicht? Einer von beiden hat nämlich auch so eine merkwürdige Abgeschlagenheit und ist etwas aufgedunsen.
Seine Schwerhörigkeit liegt nämlich nicht (nur) am Baulärm, sondern an einer seltenen, erblichen Nierenerkrankung. „Ein Patient kann Läuse und Flöhe" haben, sagen gute Ärzte zu solch einer Konstellation. Doch das erkennt man nur, wenn man über seine Schablonen hinausblickt und nachdenkt, bei jedem Patienten aufs Neue.
Und selbstverständlich ist dieses Problem in der klinischen Psychologie noch viel größer, denn hier fehlt eine apparative Diagnostik komplett. Es kommt alleine auf das Können des Therapeuten oder Psychiaters an. Heikel und hochsensibel das Ganze.
Alles nur seelisch?
Hinzu kommt: Wenn Mediziner nicht entsprechend auf Selbstkritik trainiert sind und es an Fachwissen zu eher seltenen Erkrankungen mangelt, ist die Versuchung groß, mal eben schnell seelische Ursachen für die Beschwerden aus dem Hut zu zaubern.
Wenn kein Befund erkennbar ist, der in eine der üblichen Schablonen passt, lautet die Diagnose meist: „psychosomatisch". „Die Patienten kommen dann in Psychotherapie, obwohl sie seelisch vollkommen gesund sind", erklärt Dr. Peter Maier.
„Eher werden diese Menschen als Hypochonder deklariert, als dass ein Arzt an sich selbst zweifeln würde", berichtet die Psychologieveteranin Hildegard Mannheim.
Nicht nur die Patienten sind unbeliebt
Es ist sogar noch heikler: nicht nur Patienten mit seltenen Erkrankungen sind eher „unbeliebt", sondern auch ihre Leiden als solche. Für die forschenden Pharmaunternehmen rechnet es sich wegen der geringen Fallzahlen schlicht nicht, in diesen Bereichen zu forschen.
Daher bleibt nur der Rat: Im Zweifel immer eine zweite Meinung einholen und wenn es gar nicht mehr anders geht, sich an eines der „Zentren für seltene Erkrankungen" wenden.
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